Lise Lindstrom: "Ich bekomme heute noch Gänsehaut!"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die amerikanische Sopranistin Lise Lindstrom singt ab 28. April Puccinis Turandot in der Wiener Staatsoper. Mit der "Presse" sprach sie über ihr aufregendes Debüt in dieser Rolle an der Metropolitan Opera in New York, über ihre "Lehrzeit" bei ihrer Mutter und das Privatleben eines Stars.

Die Presse: Sie haben schon oft und an vielen Orten die Turandot gesungen. Sind Sie noch immer aufgeregt? Ist es eine schwere Partie?

Lise Lindstrom: Ja. Ich bin immer noch aufgeregt. Und es ist wirklich eine schwere Partie. Ich glaube, ich habe die Turandot über 130 Mal gesungen und liebe sie noch immer. Ich habe sie in Covent Garden in London gesungen, an der Mailänder Scala, in der Arena von Verona – und sogar in Hongkong und Guangzhou in Kanton. Schön fand ich, dass dort der chinesische Opernchor für uns in der Pause das chinesische Lied von der Jasminblüte gesungen hat, das in der Oper mehrmals zitiert wird.

Wie lange dauert es, bis man so eine Partie kann?

Lindstrom: Ich singe nicht jeden Tag. Für meine Stimme ist es besser zu rasten als sie zu überstrapazieren. Ich arbeite aber sehr hart und beständig an der Turandot in meinem Kopf. Selbst jetzt noch, nach den vielen Auftritten, die ich hatte, gehe ich die Partie im Geist durch, die Vokale, die Konsonanten, wo soll Turandot dramatisch, gefühlvoll oder süß klingen? Was sagt sie und was will sie sagen?

Wie schafft man es, die Balance zwischen Technik und Gefühl beim Singen zu halten?

Lindstrom: Wenn ich eine Philosophie beim Singen habe, dann ist es die, dass die Sänger während ihrer Ausbildung in einer gewissen Weise von ihrer Stimme distanziert werden. In den Konservatorien und Universitäten wird die Tatsache ignoriert, dass Singen innere Arbeit ist. Die Ausbildung ist sehr technisch und auf Präzision orientiert. Das ist wichtig, aber ein Sänger kann akkurat und technisch perfekt klingen – und du fühlst nichts. Nur wenn die Technik und das Gefühl zusammen kommen, ist es ideal, dann ergibt sich die Magie der Musik.

Sie hatten ein sehr aufregendes Debüt als Turandot in der New Yorker Metropolitan Opera. Sie mussten kurzfristig einspringen. Was ist da passiert?

Lindstrom: Ich war die Zweitbesetzung. Jeden Tag hat die Oper angerufen und hat mir gesagt, ich müsse mich bereithalten, es ist nicht sicher, ob die Erstbesetzung auftreten kann. Die Nacht vor der ersten Vorstellung war das auch so. Ich schlief sehr schlecht, genauer gesagt, gar nicht, ich bereitete mich die ganze Nacht vor. Am Morgen riefen die Leute von der Met an und sagten mir, die Erstbesetzung wird singen können. Ich war total erleichtert, meine Nervosität legte sich, ich ging mit meinem Vater und meiner Stiefmutter essen. Und dann plötzlich kam der Anruf, sie fragten: Wie geht es Ihnen? Sind Sie bereit an der Met zu debütieren? Bei Wiederaufnahmen dieser Größenordnung gibt es an Opernhäusern keine Proben mehr. Ich erinnere mich noch, wie viele Leute in meine Garderobe kamen und mir nochmal erklärten, was ich wann machen sollte. Dann musste ich auf die Bühne.

Ist ein solcher Stress normal im Opernleben? War viel Applaus? Wer war ihr Partner, wer sang die Kalaf-Rolle?

Lindstrom: Solche Vorkommnisse sind normal im Opernleben. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Den Kalaf sang Marcello Giordani, er war unglaublich unterstützend, hilfreich und großzügig, am Ende verbeugten wir uns gemeinsam, dann schob er mich vor. Die Menschen sprangen von den Sitzen, sie schrien, trampelten, die Begeisterung war gewaltig. Ich werde diese Momente niemals vergessen. Das sind die Erlebnisse, du machst es und du gehst entweder dabei kaputt, oder du schaffst es. Dann ist es das Schönste, was dir passieren kann.

Wollten Sie als Kind eine Prinzessin sein? Ich habe gelesen, Sie haben bei Ihrer Mutter singen gelernt, die Sängerin war. Ich könnte mir das nicht vorstellen, mit meiner Tochter würde es dabei Mord und Totschlag geben. Wollten Sie nie, dass jemand anderer Ihnen Unterricht gibt?

Lindstrom: Aber absolut und wie! Prinzessin wollte ich aber nie sein. Meine Mutter war eine richtige Diva, ich habe das Temperament dafür gar nicht. Sie war eine außergewöhnliche Frau. Meine Mutter war mein größter Fan, aber auch mein harschester Kritiker und sie hatte immer Recht. Sie war nicht grausam, aber sie sah klar, was funktionierte und was nicht. Wir lebten in einer kleinen Stadt, sie war die einzige, die mir helfen konnte. Später habe ich dann bei anderen Leuten studiert.

Sie wirken in der Tat hier im persönlichen Gespräch sehr anders als auf der Bühne als herrische Turandot. Was ist los mit dieser Prinzessin? Wie viele Liebhaber lässt sie töten, bevor Kalaf sie gewinnt?

Lindstrom: Ich glaube, es sind Hunderte, die sterben müssen. Turandot ist in gewisser Weise eine Psychopathin, nein, das sollte man eigentlich nicht sagen. Nicht einmal Elektra ist eine Psychopathin. Diese Frauen sind Opfer ihrer Umgebung und der Verhältnisse. Turandot hat sich eine sehr kleine Welt gebaut, wo sie einen Mann nur dann heiraten kann, wenn er ihre drei Rätsel löst. Sie kennt kein anderes Leben, sie steckt in ihrem Palast fest und ist eingesperrt. Aber sie will nicht mehr die Person sein, die sie ist. Die Liebe heilt sie, sie erlebt eine richtige Metamorphose.

Kann man sich Turandot und Kalaf als ganz normales Ehepaar vorstellen, das vor dem Fernseher sitzt oder gemütlich Champagner in einer Bar zusammen trinkt?

Lindstrom: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die zwei jemals ein normales Leben führen können. Sie sind beide ganz stark narzisstische Persönlichkeiten. Er ist genauso grausam wie sie. Er opfert seinen Vater Timur und die Sklavin Liu für einen Hauch, einen Blick von einer Frau, die er das erste Mal sieht. Der Krieg hat Kalaf seiner Familie entfremdet, nun ist ihm alles egal und alles recht, um diese Frau zu gewinnen. Turandot und Kalaf wollen um jeden Preis ihren Kopf durchsetzen.

Könnte man sagen, dass das Leben Turandots ein wenig ähnlich ist wie das Leben eines Opernstars? Beide sind höchst riskant unterwegs, sie werden vergöttert, können aber auch abstürzen.

Lindstrom: Ich habe oft darüber nachgedacht. Turandot jedenfalls ist eine richtige Diva, sie hat alles, was zu diesem Typ passt: sie ist unberechenbar, mächtig, sie will noch mehr Macht, sie manipuliert alle und schreckt nicht vor Mord zurück, sie überschreitet brutal und skrupellos alle Grenzen.

Gibt es Parallelen zwischen Turandot und Salome, die Sie schon oft gesungen haben?

Lindstrom: Turandot und Salome sind beide Prinzessinnen und sehr isoliert. Ihre Leidenschaften führen sie in die Irre. Und beide haben große Angst, vor allem vor Kontrollverlust.

Sind Opernfiguren real oder Archetypen oder Fantasmagorien?

Lindstrom: Das ist für mich die falsche Frage. Für mich ist die Oper real mit all ihren Geschichten und all ihren Leidenschaften. Ich könnte mir ein Leben ohne die Oper gar nicht vorstellen.

Sehr viele Menschen im Westen leben zwischen Büro und Fitnesstudio und sehnen sich nach dem Besonderen.

Lindstrom: Ich glaube, genau deshalb braucht man Oper! Man braucht das Bisschen „Zing!“ und „Fffft!“, diese elektrischen Schläge aus einer anderen Dimension, die einen aufrütteln, die die Augen glühen und das Herz schneller schlagen lassen.

Sie haben immer gewusst, dass Sie Sängerin werden wollten?

Lindstrom: Ich habe getanzt und Klavier gespielt. Mit 13 oder 14 war es dann klar, dass ich Sängerin werde. Meine Mutter wusste, wie schwer ein Sängerleben werden würde und bat mich, etwas anderes als Singen für mich zu finden. Offensichtlich habe ich nicht auf sie gehört.

Sie sind in Kalifornien geboren und haben norwegische Wurzeln.

Lindstrom: Mein Großvater kam aus Norwegen. Ein Bruder und eine Schwester von ihm waren schon in den USA. Er kam aus Stavanger. Das war 1920. Er hoffe auf ein besseres Leben in Amerika. Er sprach kein Wort englisch. Er arbeitete in einer Fabrik und lernte die Sprache in der Abendschule. Er hatte eine klassische Migranten-Geschichte, vom Tellerwäscher zum Millionär. Er arbeitete sich aus dem Nichts zum Vorsitzenden des Vorstands einer Bank hinauf.

Wie ist das Privatleben von Opernstars?

Lindstrom: Es ist kompliziert, unsere Geliebte und unser Liebhaber, das ist die Musik. Und die Musik ist eine eifersüchtige Geliebte. Manche sind verheiratet, manche sind allein. Ich war verheiratet, jetzt bin es nicht mehr. Manche sagen, die Karriere ist schuld. Aber die Wahrheit ist gewöhnlicher, zwei Menschen haben sich auseinander gelebt. Das kann passieren, egal, ob du ein Opernstar bis oder nicht.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Lindstrom: Ich singe Salome in Genua. Ich reise viel, ich liebe es aber auch zu reisen. Ich überlege, nach Europa zu übersiedeln. Ich bin sehr begeistert von Europa und ich singe sehr viel hier. Aber als nächstes studiere ich in Melbourne Richard Wagners „Ring“, die Brünnhilde ein, die ich auch in Sydney singen werde. Diese Rolle ist eine gewaltige Herausforderung. Man braucht Jahre, um sie zu verstehen und sie sich einzuverleiben.

Was machen Sie, wenn Sie nicht singen? Golf spielen?

Lindstrom: Nein. Ich klettere nicht und fahre auch nicht mit dem Rad auf Berge hinauf. Gefährliche Sportarten kommen für mich nicht in Frage. Aber ich bin sehr gern aktiv und erkunde gern das Land oder die Stadt, in der ich gerade arbeite. Durch die Oper ist man nicht einsam, man hat überall Freunde.

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