Darf die Kampfpilotin den Passagierjet abschießen?

Extremer Fall vor Gericht (v. l.): Pauline Knof, Martina Stilp-Scheifinger, Julia Stemberger und Susa Meyer.
Extremer Fall vor Gericht (v. l.): Pauline Knof, Martina Stilp-Scheifinger, Julia Stemberger und Susa Meyer.APA/HERBERT NEUBAUER
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Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama „Terror“ zwingt das Publikum in ein moralisches Dilemma.

Ein Soldat tötet bei einem Einsatz aus eigener Entscheidung eine große Gruppe Menschen, um dadurch zu verhindern, dass sonst eine wesentlich größere Anzahl Menschen ums Leben käme. Soll er für vielfachen Mord zu wahrscheinlich langer Haftstrafe verurteilt werden? Soll er freigesprochen werden? Diesen zugespitzten Fall hat der deutsche Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach zum Kern eines Dramas gemacht. Mit großem Erfolg. Die Verfilmung war im Vorjahr ein Quotenbringer im TV, das Stück wurde bisher weltweit in 70 Theatern gespielt. Der Aufsehen erregende Trick: Das Publikum spielt Geschworene. Es muss nach der Verhandlung von knapp zwei Stunden entscheiden: Schuldig oder nicht schuldig?

Das gesellschaftspolitische Experiment wurde nun in Wien wiederholt. Julian Pölsler, für Literaturverfilmungen gefeiert, hat „Terror“ in den Kammerspielen der Josefstadt kühl inszeniert. Das Ensemble besteht bei ihm aus sieben Frauen. So wird aus dem Angeklagten Lars eine Lara Koch, über die eine Richterin und die Schöffen befinden sollen, nachdem die Verteidigerin und die Staatsanwältin ihre Plädoyers gehalten haben. Durch diese Besetzung ist der Prozess angenehm befreit von männlichen Hormonen – kampfbetont bleibt der Abend jedoch. Von Schirach hat eine Polemik geschrieben. Sein Text fordert ein Entweder-Oder. Davon lenkt in dieser feminisierten Version wenig ab. Zügig wird man zum Urteil gedrängt.

70.000 Menschen in der Fußball-Arena

Einleitend sah man bei der Premiere am Donnerstag ein entbehrliches Video, das die Frauen privat bei der Vorbereitung auf den Gerichtstag zeigt. Danach erscheint die Vorsitzende des Gerichts (Julia Stemberger) an der Rampe, erklärt die Regeln. Vorhang auf, die Bühne (Walter Vogelweider) ist ein Gerichtsaal mit Designermöbeln, einen Glaskäfig gibt es für die Angeklagte. Zum Fall: Bundeswehrpilotin Koch (Pauline Knof), wird ein Einsatz befohlen, der ein Dilemma birgt. Ein Terrorist hat einen Airbus entführt, er nimmt direkten Kurs auf die Allianz-Arena in München, in der vor 70.000 Zusehern die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt. Die Majorin in ihrem Kampfjet und ein Kollege sollen in weniger als einer Stunde den Massenmord verhindern. Versuchtes Abdrängen und ein Warnschuss helfen nichts. Kurz vor dem Einschlag des Jets ins Stadion, der wahrscheinlich Zehntausende Todesopfer gefordert hätte, entscheidet sich die Pilotin gegen den Befehl der Vorgesetzten dafür, das Passagierflugzeug mit 164 Insassen abzuschießen. Niemand von ihnen überlebt, aber die Stadionbesucher sind gerettet.

Münzen für Schöffen: Kopf oder Adler?

Knof spielt die Angeklagte in ihrer strengen Uniform androgyn, herb und gefasst. Diese Soldatin würde wieder so handeln. Ihr kräftigstes Argument: Nachdem der Terrorist das Flugzeug entführte, um damit maximalen Schaden anzurichten, wurde der Jet mit seinen Insassen zur Waffe. So würde man wohl in Staaten, die „gerechte“ Kriege führen, allerlei Kollateralschäden legitimieren.

Ganz anders sieht das die Staatsanwältin (Susa Meyer): Die Idee des kleineren Übels sei hier prinzipiell abzulehnen. Der Rechtsstaat wird absolut gesetzt. Emotional, Spitzen sowohl gegen die Anklage wie auch gegen die Richterin austeilend, agiert Martina Stilp-Scheifinger als Verteidigerin. Sie versucht, das Unmenschliche dieses Rigorismus hervorzuheben. Ihre effiziente utilitaristische Variante lautet: Minimierung des Unglücks – in diesem Fall 164 Opfer.

Auf Differenzierungen in dieser Extremsituation, mildernde Umstände oder Relativierung von Mord lässt sich die sophistische Übung nicht ein. Dieses Stück drängt das Volk zu einem spontanen Entschluss. Die Geschworenen der Kammerspiele entschieden mit Münzen. Jeder Besucher bekam eine ausgehändigt, die er in eine von zwei Büchsen werfen konnte. 61,4 Prozent votierten für nicht schuldig. Die kurze Urteilsbegründung der Richterin folgte. Großer Jubel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2017)

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