Europäischer Theaterpreis: Gibt es kein revolutionäres, echtes Theater mehr?

Tiit Ojasoo
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In Rom wurde am Sonntag der 16. Europäische Theaterpreis verliehen. Die Hauptpreise gingen an Isabelle Huppert und Jeremy Irons, die Nebensektionen verwunderten: Zwischen Schlammschlachten und altbackenen Inszenierungen war nicht viel zu finden.

Mit 60.000 Euro ist er der höchstdotierte Theaterpreis Europas: Der "Premio Europa per il Teatro", von Jack Lang und Melina Mercouri gegründet, ursprünglich stationär in Taormina angesiedelt, mittlerweile aber auf Wanderschaft, wurde am Sonntag in Rom verliehen. Den Hauptpreis gewannen ex aequo Isabelle Huppert und Jeremy Irons, die ihr unbestrittenes theatralisches Können - auch wenn es in der internationalen Wahrnehmung durch ihre erfolgreichen Filmaktivitäten häufig überlagert wird - durch eine gemeinsame Lesung der bewegenden Briefe zwischen Maria Casares und Albert Camus kurz vor seinem Tod erneut eindrucksvoll unter Beweis stellten.

Bei allem Respekt für die beiden sympathischen Megastars war man eigentlich mehr auf die Nebenpreisträger in der Kategorie "Realità Teatrali" (Theatralische Wirklichkeiten) gespannt: Kirill Sebrennikov, das Theater NO99 aus Tallinn, Suzanne Kennedy, Yael Ronen und Alessandro Sciarroni. Der wahrscheinlich beste Regisseur von allen (in Wien durch seine Inszenierung der Olga Neuwirth'schen "Lulu"-Version sowie durch sein "Tote Seelen"-Gastspiel bei den Festwochen bekannt), Kirill Sebrennikov, war leider nicht präsent, auch keine seiner Produktionen: Denn das russische Regime hält ihn, den schwulen Putinkritiker, seit geraumer Zeit aufgrund fadenscheinigster Vorwürfe gefangen. In seinem kleinen Studio steht er, Kreativbolzen und Workaholic, unter Hausarrest - ohne Telefon, ohne Computer, ohne menschliche Kontakte - und durfte nicht einmal der Premiere seines überaus erfolgreichen "Nurejew"-Balletts am Bolschoj-Theater beiwohnen.

Im Dreck gewälzt

Bei anderen Preisträgern war der Grund ihrer Ehrung anhand der gezeigten Produktionen nicht ganz so leicht nachzuvollziehen. Die derzeit äußerst gehypte deutsch-schottische Regisseurin Suzanne Kennedy (die gerade zur Eröffnung der Chris Dercon'schen Volksbühne einen spektakulären Flop gelandet hat) präsentierte ihre Münchner Kammerspiele-Inszenierung der "Selbstmord-Schwestern". Nach deren Ansicht fällt es schwer, dem Kollegen des "Spiegel" mit seiner brillant formulierten, vernichtenden Kritik nicht vollinhaltlich recht zu geben: ein "sinn- und humorloses Mutantentheater". In Rom kam noch ein beglückender Schadenfreudemoment hinzu: Denn die Aufführung begann mit anderthalb Stunden Verspätung - weil das Videosystem zusammengebrochen war.

Das estnische Theater NO99 aus Tallinn - das so heißt, weil es sich geschworen hat, nach der 99. Produktion aufzuhören - zeigte seine Arbeit Nummer 43 (von 99 herabgezählt): "Filth" (Schmutz). Das Publikum mit Plexiglaswänden schützend, stampfte ein Dutzend Performer zu Musik vom Band (u.a. Mozart) solange in Dreck herum, bis sie alle kaputt und vollkommen schmutzig waren. Es ist zu hoffen, dass nach weiteren 42 Inszenierungen dieser Art in Tallinn wirklich Schluss ist mit halblustig . . .

Heilloses Durcheinander von Yael Ronen

Nach diesen herben Enttäuschugen waren alle hoffnungsfrohen Erwartungen auf die auch in Österreich durch ihre Projekte in Graz (Schauspielhaus) und Wien (Volkstheater) bestens bekannte israelische Regisseurin Yael Ronen gerichtet. Sie gastierte mit ihrer Maxim-Gorki-Theater-Produktion "Roma Armee" (im vollen Titel eigentlich "Roma Armee Fraktion", was zwar witzig, aber total unhaltbar ist). Nach einem fulminanten Beginn - eine hochgewachsene schwedische "Transe" singt das berüchtigte Zarah-Leander-Lied "Zigeuner, Du hast mein Herz gestohlen" - fällt die ganze Chose sehr rasch total ab. Ronens Vorgangsweise ist ja, zu politisch relevanten Thema diesbezüglich involvierte Akteure einzubeziehen. Was in diesem Fall schiefgeht: Nicht nur, weil die Hälfte der Emsemble-Mitglieder gar keine Roma/Sinti sind, was die Ursprungsidee eines "echten", dokumentarischen, Community-Theaters ad absurdum führt. Sondern auch, weil die angeblich "gelebten", von den Mitwirkenden erzählten und von Ronen zusammengebastelten Geschichten in einem heillosen Ducheinander von am Thema vorbeigehenden politisch korrekten Topics enden; und das alles in dem Publikum aggressiv entgegengeschleuderten Frontal-Sermonen.

Schlimmer nur noch Alessandro Sciarronis Performance "UNTITLED_I will be there when you die": Ein paar in Jeans und heraushängende T-Shirts gekleidete junge Männer werfen eine Stunde lang auf einer leeren Bühne mehrere Keulen in die Luft und fangen sie - in verschiedenen Rythmen, Zeitabständen und unter seltsamen Geräuschen - wieder auf: Ping, Pong, Ping, Pang . . .

Verzweifelte Premio-Besucher warfen sich somit in die Arme der "Ritorni"-Sektion (Wiederkehrer/Wiedergänger), also in die Abteilung, in deren Rahmen jüngere Arbeiten von verdienten ehemaligen Premio-Europa - Preisträgern gezeigt wurden. Allerdings hatte der ehemalige Hardcore-Avantgardist Giorgio Barberi Corsetti nur einen unendlich langweiligen "Re Lear" zu bieten, und Bob Wilson den x-ten Aufguss (mit hiesigen Schauspielschülern) seiner legendären "Hamletmaschine".

Buchstabengetreue Theatertradition

Peter Stein wiederum war zwar mit einer aktuellen Produktion vertreten, Shakespeares "Richard II.", mit diesem jedoch in dem mittlerweile sattsam bekannten Stein'schen Altersstil: der buchstabengetreuen Umsetzung der überlieferten Regieanweisungen mit einem äußerst raffinierten Arrangement der handelnden Personen, jedoch ohne jede weitergehende Anstrengung einer etwaigen Interpretation. Sehr schön und attraktiv auf alle Fälle die Kostüme von Annamaria Heinreich.

Am Ende Ratlosigkeit bei den eintausend Teilnehmern aus der ganzen Welt: auf der einen Seite überwuzelte Theatertraditionalisten, auf der anderen destruktive Theaterhasser. Gibt es denn gar keine "Mitte" mehr, kein reformatorisches, revolutionäres, performatives, die Grenzen der Tradition erweiterndes, aber den Grundsätzen des Genres dennoch immer noch treu bleibendes Theater?

Es schaut nicht danach aus, und es schaut offenbar auch nicht gut aus für den Zustand des europäischen Theaters generell . . .

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