Akademietheater: Vor Sonnenaufgang dunkle Poesie

Belastete Beziehung: Dörte Lyssewski als Annemarie Krause, Michael Abendroth als ihr Mann Egon.
Belastete Beziehung: Dörte Lyssewski als Annemarie Krause, Michael Abendroth als ihr Mann Egon. (c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Ewald Palmetshofer hat Gerhart Hauptmanns erstes Drama erfolgreich nachgedichtet, Dušan David Pařízek ist eine elegisch verfremdete Inszenierung gelungen.

Der Naturalismus vieler Dramen am Ende des 19. Jahrhunderts war auch durch genaue Anweisungen für das Bühnenbild geprägt. Gerhart Hauptmann pflegte das bei seinem Debütstück „Vor Sonnenaufgang“, das 1889 in Berlin vor allem durch die Szene einer Totgeburt zum Skandal wurde. Zugleich bescheinigte man ihm, durch dieses „soziale Drama“ zur neuesten Weltliteratur zu gehören, in der bereits Ibsen, Tolstoi und Zola reüssierten. Der deutsche Naturalismus ward geboren. Im Text werden ausführlich Zimmer und Hof der durch Kohleabbau reich gewordenen Bauernfamilie Krause beschrieben, die Bühnenbilder hat man zudem durch Skizzen fixiert.

In der österreichischen Erstaufführung eines gründlich erneuerten „Sonnenaufgangs“ (Premiere war am Mittwoch im Akademietheater) wird der Hyperrealismus reizvoll relativiert. Man sieht in der Diagonale einen offenen Kubus, die Rückwand ist mit Papier verkleidet, dahinter der Schatten einer Tanzenden. Vorn richtet sich Markus Meyer an einem Schminktisch bereits für seinen Auftritt als Thomas Hoffmann vor, der Schwiegersohn im Hause Krause. Seine Frau Martha steht daneben im fleischfarbenen Trikot, hantiert mit dem künstlichen Bauch einer Schwangeren – Stefanie Dvorak scheint beim Anlegen des Kostüms noch Text zu memorieren. Da zerreißt die Tänzerin das Papier. Der Schatten ist Marthas Schwester Helene, Marie-Luise Stockinger spielt sie.

Surreal: Frei im Raum die Toilette

Noch bevor der erste Satz fällt, weiß man: Das ist mehr als der Naturalismus Hauptmanns, postdramatisch kann man zugleich hinter die Bühne, hinter die Schatten, blicken. Der Originaltext wird als Schablone für eine Überschreibung genutzt. Poetisch hat ihn der oberösterreichische Dichter Ewald Palmetshofer in meist gebunden wirkender Sprache nachgedichtet. Sein Auftragswerk für das Theater Basel wurde im November uraufgeführt. Nun folgte Wien. Auch hier ist die Operation grosso modo gelungen. Dušan David Pařízek hat eine elegisch verfremdete Inszenierung geschaffen und eben auch ein fast surreales Bühnenbild.

Ein Riss geht durchs Papier, bald sieht man das ganze Bühnenbild: Hinten war eine Küchenzeile verborgen, links gibt es eine Stiege, die an mobile Einstiege bei Flugzeugen erinnert. Und verloren steht frei im Raum eine Toilette. Auf die setzt sich Hausherr Egon Krause (Michael Abendroth) und kommentiert seinen verlässlichen Stuhlgang, während andere frühstücken. Selbst für liberale Patchworkfamilien wäre das ein ungewöhnlicher Vorgang. Aber er ist typisch für diese Aufführung. Das Reale wird vorgetäuscht, es geht im Grunde um eine Menge Metaphysik. Palmetshofer hat aus dem Sozialdrama dunkle Poesie gemacht, das Raue des Originals geglättet. Ein stetiges Merkmal sind Pausen in schrägen Dialogen oder mitten in anspruchsvollen Monologen. Manchmal meint man gar, hier finde eine Gruppentherapie statt. Themen: Weltschmerz, Sucht, Verfall. Subjektiv empfunden kann solches Sinnieren natürlich Längen haben.

Die Wehen hoch oben auf der Treppe

Das Ensemble bietet jedoch nicht nur Künstlichkeit, sondern pralles Theater. Dörte Lyssewski als Krauses zweite, von den Stieftöchtern geschnittene Frau, die dem Alkohol beinahe so stark verfallen ist wie ihr Mann, gibt resolut ihr Bestes, um diese Familie zusammenzuhalten. Ein tolles Theaterpaar. Dvorak spielt mit Herzblut die zur Hysterie neigende Schwangere, Stockinger meist mit etwas mehr Diskretion die kleine Schwester, die sich zurückgesetzt fühlt, nun aber die Liebe erlebt: Ihr Schwager wird von einem Freund aus der Studentenzeit besucht, Michael Maertens überzeugt völlig als dieser ungelenke Alfred Loth, Journalist eines linken Blattes. Man nähme ihm sogar ab, das soziale Gewissen bei der „Zeit“ zu sein. Mit ihm kommt Bewegung ins Spiel. Fein balanciert Meyer als Hoffmann zwischen Misstrauen, Nostalgie und abweisenden Reaktionen. Der fragt sich, ob Alfred nur gekommen sei, um die Geheimnisse einer Familie von Ausbeutern zu recherchieren. Nein, seine Suche ist viel allgemeiner existenziell.

Bald reden alle über das Leben. Alfred und Helene verlieben sich, der Arzt, der sich bei ihr Hoffnungen machte, hat das Nachsehen. Fabian Krüger spielt perfekt einen Zauderer, der sich nur am Klavier austobt. Er hat drängendere Sorgen. Die Geburt von Marthas Kind ist überfällig. Das dramatische Finale wird hier auf der Treppe symbolisch verfremdet inszeniert. Dvorak zieht das Trikot mit dem Gummibauch aus. Betroffene Stille. Dass sie dann an die Rampe geht und Tragödie spielt, ist nur ein Nachspiel.

Davor sah man komplexe Beziehungsgeflechte. Es wird tabulos umarmt, geküsst, getrunken, gestritten, fast wie im richtigen Leben. Palmetshofers kunstvolle Sprache mit all ihren subtilen Wendungen aber widerspricht solcher Natur: alles nur Theater, der Stoff, aus dem Alpträume, surreale Träume und Wunschträume sind. Man hört einen alten Schlager: „Wunder gibt es immer wieder“. Wenn nicht beim harten Hauptmann, dann zumindest in der Fantasie. Lang anhaltender Applaus nach 130 Minuten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2017)

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