Ein "Beben" setzt ein, die Apokalypse droht

Zwischen Albtraum und Realität: Marta Kizyma, Martin Vischer, Valentin Postlmayr, Daniel Jesch (u.)
Zwischen Albtraum und Realität: Marta Kizyma, Martin Vischer, Valentin Postlmayr, Daniel Jesch (u.)(c) Reinhard Maximilian Werner
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Im Vestibül inszenierte Anna Stiepani packend und klar ein preisgekröntes, vielschichtiges Drama von Maria Milisavljevic. Nerds treffen auf Seher aus steinalter Zeit. Das vierköpfige Ensemble überzeugt dabei in allen Phasen.

So stellt man sich den Schrecken der Auslöschung vor: Ein Dröhnen, das junge Menschen in ihren engen Wohnungen bei virtuellen Ablenkungen vernommen haben, ist lauter geworden. Sie begeben sich hinaus, ins Freie, vielleicht sogar in die Realität, denn dort scheint man tatsächlich Leute getötet zu haben, nicht nur in Ballerspielen. Eine Frauenleiche, heißt es, liege am Boden, die Nachbarin, bereits angefressen von ihrem Kater. Entsetzen spiegelt sich in den Gesichtern der Twens, Panzer fahren lärmend auf. Jetzt steht wohl der Einsatz der „Trompeten der Endzeit“ unmittelbar bevor.

Geht also wirklich alles zugrunde, am Ende von Maria Milisavljevics vielschichtigem Einakter „Beben“, der am Freitag im Vestibül des Burgtheaters seine österreichische Erstaufführung feierte? Nein. Der Text gibt doch auch Hoffnung. Die düsterste Figur, ein bedrohlicher Prophet „an der Kante der Welt“, am Abgrund von Ulro, der seinem Bruder „mitten in das Herz“ schlagen will, wird, so sagt er, von diesem geküsst. Die Mutter des toten Sohnes reicht dem Soldaten, der ihn erschossen hat, die Hand. Die Gruppe, die ins Freie getreten ist, bricht auf: „Und sie setzen sich die Kinder auf die Schultern und nehmen die Alten Huckepack und horchen. Auf die Geschichten, die erst noch geschrieben werden“, lautet der letzte Satz in dem Drama, für den die 1982 geborene Dramatikerin 2016 den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis sowie den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes gewann.

Mehr als nur eine Talentprobe

„Beben“, ein oft berührender und treffsicherer, manchmal raunender sowie in seinen Mustern der Wiederholung leicht verschwurbelter Text, ist mehr als nur eine Talentprobe. Milisavljevic zieht viele Register, von alttestamentarischen Wendungen bis zur Jugendsprache der Gegenwart. Traumgestalten treffen auf Nerds. Leicht macht die Autorin es dem Leser/Hörer nicht. Aber die aus Bayern stammende Regisseurin Anna Stiepani (geboren 1989) hat es wirklich gut verstanden, die drei komplexen Handlungsstränge in nur 75 Minuten klärend und zugleich auch packend zu realisieren. Sie verknappt die Zahl der Darsteller auf vier – das ergibt Dynamik. So wie für die Autorin gilt auch für Stiepani, dass man wohl auf außergewöhnliche Produktionen hoffen darf.

Hilfreich ist bei der Inszenierung auch das einleuchtende Bühnenbild von Thurid Peine. Sie hat zwei Vitrinen wie ein zum Publikum offenes V auf die kleine Bühne gestellt. Diese Räume von der Dimension größerer begehbarer Garderoben oder kleinerer Studentenzimmer sind nach vorne transparent und wirken hinten wie Spiegel. Das ergibt raffiniert unkomplizierte Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit. Wenn zum Beispiel die Mutter (Marta Kizyma) in den Dialog mit dem Soldaten tritt, ihm die Hand reichen will, weil sie glaubt, dass sie so den Tod des Sohnes besser verkraften kann, dann greift sie anfangs nur vergeblich zum Spiegelbild im eigenen Raum, während der offenbar traumatisierte, blasse Soldat (Martin Vischer) im anderen Raum mit seinen Emotionen kämpft. Langsam, zögernd nähern sich die beiden an. Erst am Ende gibt es das wirkliche Händereichen. Das sind wunderbare, magische Szenen.

Profaner wird es, wenn das Quartett bei Kriegsspielen in Kunstwelten versinkt. Da gibt Valentin Postlmayr authentisch einen heutigen Typen. Treten sie dann aus ihrem modernen Käfig, wird erst einmal ein Selfie gemacht. Außerhalb der Vitrinen bewegt sich Daniel Jesch als bärtiger, wilder Prophet, er geht sogar bis zum Publikum hin, umschleicht sozusagen die Szene. Wie die anderen drei trägt er ein dunkles Stirnband. Während die Jüngeren aber durchwegs streng schwarz gekleidet sind, hat er einen zerzausten braunen Mantel aus Fell an. Er ist der „Mann von der Kante von Ulro“, er scheint aus grauer Vorzeit zu kommen.

Propheten längst vergangener Zeiten

Die Figur ist William Blakes (1757–1827) geheimnisvollen Dichtungen nachempfunden, sie könnte dem „Book of Los“ entsprungen sein. Wenn in „Beben“ ein ewiger Prophet von fürchterlicher Endzeit singt, denkt man auch an „Jerusalem“, „Milton“ oder „The Four Zoas“. Ulro ist bei Blake das Land, in dem von Beulah geträumt wird, dem Reich des Unbewussten. Die Leidenden, die Verdammten sehnen sich nach konfliktfreier Ewigkeit. Auch der polnische Nobelpreisträger Czesław Miłosz (1911–2004) besuchte dichtend „Das Land Ulro“ mit seinen tiefen Geheimnissen. In „Beben“ wird solche Verlorenheit weitergeträumt. Es sind noch Lieder zu singen jenseits von irgendwo. Starker Applaus bei der Premiere für dieses junge, gut aufeinander abgestimmte Team.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2019)

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