Pop

Wiener Festwochen: Drama-Techno im alten Schloss

Mehr oder weniger neuzeitliche, meist elektronische Musik in dem unter Kaiser Maximilian II. (1527–1576) errichteten Schloss Neugebäude: Das Festival „Hyperreality“ findet in vier Räumen – im Bild: der Westsaal – statt.
Mehr oder weniger neuzeitliche, meist elektronische Musik in dem unter Kaiser Maximilian II. (1527–1576) errichteten Schloss Neugebäude: Das Festival „Hyperreality“ findet in vier Räumen – im Bild: der Westsaal – statt.(c) Wiener Festwochen/Susanna Hofer]
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Die neue Reihe „Hyperreality“ – noch heute, Samstag – soll ein „Festival für Club Culture“ sein. Sie funktioniert vor allem durch das wunderbare Ambiente.

Ein in staubiger Würde verfallenes, jahrelang als Fabrikshalle genutztes kaiserliches Lustschloss: Das Schloss Neugebäude in Simmering, auf der langen Straße hinaus nach Kaiserebersdorf, ist ein genialer Ort für das, was man einst Rave oder Techno-Clubbing genannt hat. Allein mit der Wahl dieser Location für die viertägige Reihe „Hyperreality“ ist den Wiener Festwochen etwas gelungen. Dass dort, wie im Programmheft steht, „gesellschaftliche Zwänge und Mechanismen außer Kraft gesetzt werden“ oder gar „eine neue Gesellschaft erdacht“ wurde, kann der neugierige Besucher zwar nicht bestätigen, das ist halt die neue Festwochen-Werbeprosa.

Aber man kann sich dort wohlfühlen, schon wegen der luxuriösen Weitläufigkeit des Geländes: Es gibt kein Gedränge, kein Rempeln, keine Schlangen, alle sind lieb und friedlich – nicht nur im Ostsaal, wo man beim Eingang belehrt wird, dass hier die Menschen aufeinander Rücksicht nehmen, bevor einem ein Fingernagel rosa lackiert wird. Drinnen, im Club Sub Rosa, empfängt einen die Stimmung einer fortgeschrittenen Wohnzimmerparty, man kann rohen Mürbteig essen (ein Kindheitstraum) und den professionellen Tänzerinnen und Tänzern dabei zusehen, wie sie sich zu psychedelisch angehauchtem Funk wiegen.

Die Dark Wave kommt immer wieder

Ganz gegensätzliche Atmosphäre herrscht im Stall: Dort tappt man im Halbdunkel, durch das von Zeit zu Zeit ein Stroboskop blitzt, auf unebenem Boden und empfindet die gehörten Klänge noch düsterer, als sie ohnehin sind. Wenn man aus der Vielfalt des Programms – das unmöglich zur Gänze zu konsumieren ist – ein Resümee zum Status quo des Techno (im weitesten Sinn) ziehen kann, dann vielleicht, dass romantische Schwermut und schwermütige Romantik dort wieder einmal Hochkonjunktur haben. Oft fühlt man sich an die Dark Wave erinnert, die in den späten Achtzigerjahren durch den avancierten Pop wogte, etwa bei den Vertretern des Londoner Labels Bala Club oder bei Tropic of Cancer, denen man ihre kalifornische Herkunft nicht anhört, sehr wohl aber, dass sie bei einem Label namens Blackest Ever Black publizieren. Auch bei Tony Renaissance aus Wien kam keine Heiterkeit auf: Ihr Gothic Techno, wenn man das so nennen darf, ließ an die Blumen auf dem nahe gelegenen Zentralfriedhof denken.

Doch das Gefühl, das sich in den Gemäuern des alten Schlosses am ehesten aufdrängt, ist das einer archäologischen Expedition. Die man manchmal auch pophistorisch verstehen konnte: bei Nite Jewel aus Los Angeles etwa, die unverschämt trivialen Frühachtziger-Disco-Pop spielten. Richtig schön zickig, mit kurz quäkenden Synthie-Solos, die Sängerin in sexy Strümpfen. Auch das darf sein in dieser Hyperrealität.

Faszinierende Gesänge: Holly Herndon

Wirklich aufregend war der Auftritt der amerikanischen Komponistin Holly Herndon: Ihre bisherigen Veröffentlichungen erinnern ein wenig an Laurie Anderson, auch durch die Freude am intellektuellen Überbau, ähnlich wie diese liebt sie das Basteln an und mit Stimmen. Ihr neues, bei „Hyperreality“ uraufgeführtes Programm geht da einen guten Schritt weiter: Zehn Sängerinnen und Sänger in zeitlosen Hippiegewändern verlieren sich bald in himmlischen Dissonanzen, finden sich bald in höllischen Harmonien. Es ist eine feierliche, getragene, dabei höchst komplexe Musik, die bisweilen fast spirituell anmutet, viel eher nach Tempel als nach Club klingt. Doch von welchem Glauben künden diese Gesänge? Was predigt die Orgel, die Herndon an einer Stelle heftig brausen ließ? Hörte man Kantaten, erlebte man gar eine neue Geburt der vokalen Polyfonie aus dem Geist des Techno?

Jedenfalls bereichert stieg man aus dem hohen Ballsaal über die hölzernen Treppen hinauf, hinaus ins Freie: Die Bewirtung dort ist für ein Festival ungewöhnlich günstig und originell, beim chinesischen Stand gibt es solide Sommerrollen, beim Schutzhaus liquiden Veltliner. Und man kann den Barmann, der selbst gern Schlager von Andrea Berg auflegt, fragen, ob ihm die Musik von unten auch gefällt. „Nicht so schlecht“, sagt er. Und das ganz ohne gesellschaftliche Zwänge . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2017)

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