Pop

Kein WIENERLIED ohne die Welt

Wiederbelebt. Zwischen Schrammelklang, Wean hean und Heurigenmusik öffnet sich heute ein Kosmos, der weit über die Grenzen der Kapitale hinausreicht.

Wienerlied. Wienerlieder. Am wienerliedersten. Wie man's auch dreht und wendet: Wo es um die Corporate Identity Österreichs geht, kommt man um das Sangesgut der Hauptstadt nicht herum. Kein Wunder, dass selbst die schärfsten Kritiker der Kapitale ihre Kritik nie besser vorzutragen vermochten als, nun ja, im Stil eines Wienerlieds. Siehe Georg Kreisler: Was wäre sein glühendes Plädoyer für ein „Wien ohne Wiener“ ohne Terzenschmelz und Dreivierteltakt!

In Wahrheit ist das, was wir heute als Wienerisches wahrnehmen, ja ohnehin nichts weiter als ein Surrogat unterschiedlichster Provenienz: Nicht nur, dass zahlreiche nachmalige Wienerliedakteure ihrerseits Zuagraste waren (Gustav Pick, Robert Stolz) oder von Zuagrasten abstammten (die Brüder Schrammel), hat sich das Genre für das ihm eigene Klangkostüm selbstverständlich auch im Fundus des Umliegenden, nicht zuletzt des Alpenländischen bedient. Und sogar ein aus heutiger Sicht scheinbar so typisch wienerisches Musikerbstück wie das Dudeln, mittlerweile als Immaterielles Weltkulturerbe von der Unesco kanonisiert, wird ohne die Inspiration der um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Wiener Vorstadtbühnen beherrschenden „Natursänger“ alpiner Provenienz schwer vorstellbar sein. Wie alles Metropolitane wird eben auch der musikalische Teil daran in einem großen Schmelztiegel angerührt – und wo es nichts mehr zum Verschmelzen gibt, ist es alsbald auch mit dem Metropolitanen nicht weit her. Wer's nicht glauben will, sei an den Niedergang des Wienerlieds erinnert, der sich umgehend einstellte, kaum war erst durch Vertreibung, dann durch Isolation in einem politischen Hinterhof Europas ein wesentlicher Teil jener Wurzeln gekappt, durch die sich das hiesige Musikleben bis dahin über Jahrhunderte so wunderbar genährt hatte. So ist es mutmaßlich mehr als ein Zufall, dass die Anfänge der großen Wiederbelebung des Wienerlieds mit jener Zeit verbunden sind, da Ende der 1980er mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch das Ende dieser Isolation gekommen war. Was heißt Wiederbelebung? Eine veritable Neuerschaffung ist es, in der sich das Überlieferte am Zeitgenössischen, das Alte am Aktuellen, das Hiesige am Zugewanderten bewährt und daran weiterwächst.

Das Ergebnis? Keineswegs globalisierte Weltmusik, sondern ein unverkennbares Stück Wien, dem die Welt, für lange Jahre abhandengekommen, wieder zurückgegeben ist. Nachzuhören bei Festivals wie Schrammelklang, Wean hean oder Wien im Rosenstolz, in Wiener Kaffeehäusern oder – wo sonst? – beim Heurigen. Das Wienerlied, einst krank zum Tode, lebt – nicht obwohl, sondern weil wir nicht mehr unter uns sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2018)

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