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Marianne Faithfull: Die alte Frau auf dem Kinderspielplatz

Den Stock hält sie wie ein Szepter: Marianne Faithfull in ihrer Pariser Wohnung.
Den Stock hält sie wie ein Szepter: Marianne Faithfull in ihrer Pariser Wohnung.(c) Yann Orhan
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Mit 17 hat sie zum ersten Mal „As Tears Go By“ gesungen, jetzt, mit 71, singt sie es wieder. Marianne Faithfull ist mit ihrem Album „Negative Capability“ gelungen, was ihr ehemaliger Freund Mick Jagger verweigert: ein Alterswerk.

In einem weißen Wohnzimmer, wild die Mundharmonika blasend: So hat sich Mick Jagger kürzlich auf Facebook blicken lassen – und dazu geschrieben: „Harmonica playing on new tunes!“ Befreundete Zeitschriften wie der „Rolling Stone“ lasen daraus, was daraus gelesen werden sollte: Bringen die Rolling Stones neue Songs heraus? Präsentieren sie gar welche bei ihrer für 2019 angekündigten US-Tour?

Wenn es wirklich neue Stones-Songs geben sollte, ist zu befürchten: Sie werden die Klasse nicht erreichen, die diese Band in ihren ersten zwei Jahrzehnten hatte. Vor allem weil Mick Jagger kein glaubhaftes Alterswerk gelingen will. Seine anhaltende Jugendlichkeit mag für ihn ein Segen sein, für sein Schaffen ist sie ein Fluch.

Das Paradoxe ist: Songs, wie sie Mick Jagger als alter Mann – so darf man ihn mit 75 doch nennen – nicht schreiben kann oder will, hat er als Junger geschrieben. „Sittin' On A Fence“ etwa, das Lied des ergrauten Hagestolzes, den das Leben (der anderen) überholt hat. Oder natürlich „As Tears Go By“, in dem wir einen alten Menschen auf dem Kinderspielplatz sitzen sehen, grübelnd und lächelnd über die Spiele der Jungen: „Doing things I used to do, they think are new.“

Mick Jagger war damals 20! Und Marianne Faithfull, für die er „As Tears Go By“ (gemeinsam mit Keith Richards und Stones-Manager Andrew Loog Oldham) schrieb, war 17. Wer immer vom angeblichen Jugendwahn der Sechzigerjahre spricht, sollte sich dieses Lied wieder anhören. Zuerst in der schön orchestrierten Version des Jahres 1964: Faithfull hatte als Teenager schon das Timbre einer älteren, reiferen Frau; man nimmt ihr die bittere Beschaulichkeit ab.

1987, für das Album „Strange Weather“, hat sie den Song wieder aufgenommen, langsamer, tiefer, mit mehr Ausdruck. Und nun, für „Negative Capability“, ein drittes Mal: Sie verzichtet auf die meisten Melismen („day-ay-ay-ay“), die wenigen Stellen, wo sie diese doch ausführt, wirken umso stärker.

Sommernachtstraum mit Nick Cave

Ihrer unverschämt alten Stimme folgt – wie auf fast allen Songs des Albums – eine ebenso sonore, ihrer Stimme quasi seelenverwandte Bratsche, gespielt von Warren Ellis, bekannt als Teufelsgeiger für Nick Cave. Mit diesem singt sie ein Lied gemeinsam: „The Gypsy Faerie Queen“, angesiedelt in der Halbwelt von Shakespeares Sommernachtstraum. Sie selbst stellt sich überraschend als Puck vor, als Hofnarren, der der Elfenkönigin folgt. Ein walpurgisnächtliches Schwesterntreffen schildert der „Witches' Song“, der in der Zeile mündet: „Remember, death is far away, and life is sweet . . .“

Aber ach, so weit weg ist er nicht, der Tod. „Pray for a good death“, heißt es in „Born To Live“, das sie zum Tod von Anita Pallenberg geschrieben hat, der ersten Ehefrau von Keith Richards, mit der sie in den wilden Tagen der Stones einiges erlebt hat. Es ist, vielleicht ein wenig zu betulich arrangiert, letztlich ein versöhnliches Lied, ganz im Gegensatz zu „Do Not Go“, das den Krebstod ihres langjährigen Gitarristen Martin Stone behandelt. „I do understand why you want no more fucking treatment“, singt sie – und es reißt einen, wenn sie das vierbuchstabige Wort singt, auch weil es (zumindest als Kraftausdruck) nicht zu ihr zu passen scheint. Auch in ihren elendsten Zeiten hat sie, die Urgroßnichte des Leopold Ritter von Sacher-Masoch, ihre Würde nie verloren. Auch jetzt nicht, da sie, von Arthritis und einer Hüftoperation geplagt, am Stock geht. Auf einem der zur Veröffentlichung des Albums verteilten Fotos hält sie ihn wie ein Szepter, auch hier noch stolz auf ihre Eigenart, auf ihren „particular way“, man muss hören, wie distinguiert sie das ausspricht.

Lied über den Terror in Paris

Es sind etliche starke Lieder auf diesem Album, etwa das mit Mark Lanegan als Reaktion auf den islamistischen Terroranschlag auf den Pariser Bataclan-Club geschriebene „They Come At Night“, das stärkste ist natürlich Bob Dylans „It's All Over Now, Baby Blue“. Faithfull singt jedes Wort mit Nachdruck, die vierte Strophe wird im Kontext dieser Liedersammlung zur Beschwörung des Lebens, des Überlebens: „Forget the dead you've left, they will not follow you.“

Doch sie folgen einem. Und der Tod, der alles in Atome zerstreut: „Don't go, baby“, fleht Faithfull am Ende des vorletzten Lieds: „Don't go too soon to be an atom, like Lucretius said, somewhere on the moon.“ In eisiger Konsequenz ist im letzten Lied auch der Mond verschwunden: „No Moon In Paris“, einmal noch mit der vollmundigen Viola Warren Ellis', beendet ein Album, das man gern ein würdiges Alterswerk nennen würde, wenn diese Formel nicht so abgenutzt wäre. Und wenn sie nicht verleugnen würde, was Marianne Faithfull so schmerzhaft ausdrückt: Die Hinfälligkeit und der Tod beleidigen die Würde des Menschen, greifen sie an. Ein Alterswerk ist kein Spaß. Marianne Faithfull hat eines geschafft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2018)

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