Symphonische Brückenschläge

(C) Marco Borelli
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Auf dem Konzertpodium begegnen einander bei den Festspielen die bedeutendsten Orchester und Dirigenten der Welt.

Begegnungen – das Wort darf als Motto für einen Überblick über die Orchestergastspiele bei den Salzburger Festspielen 2018 stehen, Begegnungen und Retrospektiven: 59 Jahre ist es her, dass Leonard Bernstein sein Debüt im sommerlichen Salzburg feierte. Mit den New Yorker Philharmonikern, deren Leitung der junge Maestro zwei Jahre zuvor von dem auch für die Festspiele wichtigen Dimitri Mitropoulos übernommen hatte, war Bernstein erstmals auf großer Tournee. Sie führte die amerikanischen Musiker nicht nur nach Westeuropa, sondern auch in die damalige Sowjetunion. In Moskau spielten die New Yorker Dmitri Schostakowitschs Fünfte Symphonie – in Anwesenheit des Komponisten, ein Höhepunkt im Dirigentenleben Bernsteins.
Für das Publikum der Salzburger Festspiele war dieses Werk, das beim Debütkonzert am 16. August 1959 im alten Festspielhaus erklang, im wahrsten Sinne des Wortes zeitgenössische Musik. Das gesamte Programm war Neuer Musik gewidmet, folgte doch auf den eröffnenden „Second Essay“ für Orchester von Samuel Barber die Zweite Symphonie Bernsteins, „The Age of Anxiety“. Diese Symphonie, eigentlich ein verkapptes Klavierkonzert, war 1947 entstanden und basierte auf dem literarischen Vorbild des gleichnamigen Poems von Wystan Hugh Auden.
Wenn also das London Symphony Orchestra am 20. August 2018 unter der Leitung seines neuen Chefdirigenten, Sir Simon Rattle, diese Bernstein-Symphonie (wobei Krystian Zimerman den Klavierpart übernimmt, den anlässlich der Uraufführung einst Bernstein selbst interpretiert hat) mit Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák und Leoš Janáčeks „Sinfonietta“ kombiniert, dann ergeben sich erstaunliche Querverbindungen. Zum einen gilt es, Bernsteins 100. Geburtstag zu feiern, zum andern ist Auden der Librettist von Hans Werner Henzes Antiken-Oper „Die Bassariden“, die 1966 in Salzburg zur Uraufführung kam und heuer erneut im Zentrum des Salzburger Opernprogramms steht.

Der ausradierte Diktator. Aber auch von Schostakowitsch, längst zum Repertoire-Klassiker avanciert, ist im Sommer wieder eine Symphonie zu hören: Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien spielt unter Kerem Hasan, Preisträger des Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award, die Zehnte: ein Werk, das nach dem Tod des Diktators Stalin entstand und in dem der Komponist im wütenden Scherzo seinem Hass gegen den Unterdrücker freien Lauf lässt: Das tönende Anagramm D-(E)s-C-H, das für den Namen des Komponisten steht, trägt den Sieg in diesem symphonischen Kampf davon – was ein vergleichsweise „heiteres“ Finale der pastos und in gewohnter epischer Breite anhebenden Komposition ermöglicht. Ein Werk der jüngeren Vergangenheit steht, musiziert von einem weiteren Orchester zu Gast und Chören aus Krakau und Warschau am Beginn der „Ouverture spirituelle“: Im Sinne der Wiederbeschäftigung mit Werken, die im vergangenen halben Jahrhundert Aufsehen erregt haben, beginnt das Festival heuer mit Krzysztof Pendereckis „Lukaspassion“, ein Stück, das den Beginn einer mutigen Abkehr von zuvor fanatisch festgehaltenen Avantgarde-Doktrinen markierte: Kent Nagano steht an diesem Abend des
20. Juli am Pult seines Orchestre Symphonique de Montréal.

Looking for Palestine. Ganz neu wiederum ist ein symphonisches Werk für Sopran und Orchester, dessen Erstaufführung Daniel Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra am 16. August präsentiert: „Looking for Palestine“ heißt die Komposition des 1969 geborenen Briten David Robert Coleman, der den Text für sein Werk den Erinnerungen von Najla Said entnommen hat: Sie ist die Tochter Edward Saids, der mit Barenboim im Jahr 1999 das aus jugendlichen Musikern, Israelis und Palästinensern, gemischte Orchester gegründet hat. Seit damals ist dieser Klangkörper regelmäßig bei den Festspielen zu Gast – und repräsentiert die Idee der „Begegnungen“ in ihrer edelsten Form; die friedlich miteinander musizierenden Menschen kommen tatsächlich von „beiden Seiten der Front“, die man immer noch als solche bezeichnen muss. Die Musik hat zwischen diesen Künstlern auch schon in Zeiten der äußersten Anspannung Brücken geschlagen. Selbst als in ihrer Heimat erbittert gekämpft wurde, fand man sich auf den Konzertpodien der Welt zusammen. Auch im Salzburger Festspielhaus, wo man 2018 nebst dem neuen „Palästina“-Stück Bruckners unvollendete Neunte Symphonie, das Brahms-Violinkonzert mit Lisa Batiashvili, Claude Debussys „La Mer“ und das himmelstürmende „Le Poème de l’Extase“ von Alexander Skrjabin musizieren wird.

Apropos Begegnungen: Das große europäische Jugendorchester, einst auch gegen alle widrigen Umstände aus Musikern von beiden Seiten des sogenannten „Eisernen Vorhangs“ gegründet, gastiert unter der Leitung von Senkrechtstarter Lorenzo Viotti am 24. August in der Felsenreitschule: Gautier Capuçon ist der Solist in Dvořáks Cellokonzert, überdies erklingt Anton von Weberns frühe, spätromantisch aufrauschende Klangstudie „Im Sommerwind“ und Igor Strawinskys chthonisch wütende Ballettmusik „Le sacre du printemps“. Und weitere „Begegnungen“ bereichern das orchestrale Festspielprogramm. Eine Art imaginäre Stabübergabe zelebrieren der bisherige und der künftige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Während Simon Rattle schon mit seinem neuen Orchester aus London anreist, um im zweiten Programm jenes Werk zu dirigieren, mit dem er sich in seiner Karriere immer wieder gern vorgestellt hat, Gustav Mahlers Neunte Symphonie, erscheinen die Berliner zu ihren regelmäßigen Festspielterminen Ende August bereits mit Rattles Nachfolger, Kirill Petrenko.
Der zieht mit dem ersten der beiden Programme quasi den Hut vor seinem Vorvorgänger in Berlin und Salzburger Genius loci, Herbert von Karajan, indem er zwei Tondichtungen von Richard Strauss der Siebenten Symphonie von Ludwig van Beethoven gegenüberstellt. Während dieses Programm eins zu eins in der Ära Karajan stattgefunden haben könnte, stehen am folgenden Abend, dem 27. August, ausschließlich Stücke auf dem Programm, die jenseits von Karajans programmatischer Welt liegen: Auf Paul Dukas’ Tondichtung „La Péri“ und das Dritte Klavierkonzert von Sergej Prokofjew (mit Yuja Wang) folgt die Vierte Symphonie von Franz Schmidt. Dieses Weltabschiedswerk, in einem großen, dreiviertelstündigen Bogen um einen gigantischen Trauermarsch herum komponiert, darf durchaus – apropos Begegnungen – als eine Antwort auf die symphonische Abschiedsstimmung bezeichnet werden, die Mahler in seiner Neunten beschwor. Schmidts Vierte ist in ihrer klassischen Formbeherrschung und ausdrucksstarken Klanglichkeit so etwas wie ein letztes Aufbäumen der Spätromantik. Für Petrenko ist es nicht das erste Mal, dass er sich mit diesem Stück „vorstellt“ – auch in Wien dirigierte er diese Vierte bei seinem Einstand am Pult des Radio-Symphonieorchesters; bald nach seinem Diplom an der Wiener Musik-Universität. Schon damals war das Publikum von Werk und Wiedergabe gefesselt und begeistert . . . 

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