Wir sind alle Kinder der Aufklärung

Philipp Blom bei der Eröffnung in der Salzburger Felsenreitschule.
Philipp Blom bei der Eröffnung in der Salzburger Felsenreitschule.(c) APA/FRANZ NEUMAYR/LEO (FRANZ NEUMAYR/LEO)
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Im Wortlaut. Der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom hat die Rede zur Eröffnung der Festspiele gehalten. Wir bringen sein Plädoyer für das riskante Denken in Auszügen.

Wir sind alle Kinder der Aufklärung. Dieses Bekenntnis ist inzwischen zur Phrase verkommen. Politiker, Journalisten und Historiker reden so, als wäre es eine selbstverständliche Tatsache. Dabei widerlegt gerade die Gegenwart ganz offensichtlich solche Bekenntnisse, denn es hat in westlichen Ländern seit dem Ende des Totalitarismus keinen so weit reichenden und mächtigen Angriff auf die Aufklärung gegeben wie heute.

Die Aufklärung ist der Versuch, das kritische Denken und den Respekt vor Fakten höher zu achten als Meinungen, Vorurteile, Gefühle, Traditionen oder Dogmen. Dieses Prinzip ist plötzlich in die Defensive geraten: In den Zeiten von Fake News, in denen Faktenwissen von Filterblasen abgewehrt wird, ein amerikanischer Präsident sich selbst als Lügner täglich überbietet und in dem auch hierzulande „stichhaltige Gerüchte“ bemüht werden, um die alte Mär von der jüdischen Weltverschwörung wieder wach zu kitzeln, muss man diesen Punkt nicht weiter ausführen. Auch die universellen Menschenrechte sind längst zu einer rhetorischen Beschwichtigung zusammengeschnurrt. Denn selbstverständlich gilt global ein Zwei-Klassen-Menschenrecht. Wer im reichen Westen geboren ist, hat einfach mehr Rechte, mehr Freiheiten, mehr Chancen – und das auch auf Kosten anderer. (. . .)

Aber was ist diese Freiheit wert, wenn sie darin besteht, nichts wissen zu müssen, nicht informiert sein zu müssen, sondern es sich wiederkäuend bequem zu machen? Und was ist die angemessene Reaktion auf Bürgerinnen und Bürger, denen offensichtlich ihre Mündigkeit lästig, Freiheit zu anstrengend und Gleichheit suspekt ist, die eine gefühlte Wahrheit einer durchdachten vorziehen?

In diesem Kontext nimmt der Satz „Wir sind Kinder der Aufklärung“ eine andere Bedeutung an. Immer öfter wird er auf dem ersten Wort betont und soll bedeuten: Wir sind Kinder der Aufklärung – keine Moslems also, keine kulturfremden Eindringlinge, denn diese sind nicht wie wir, sie sind unaufgeklärt, nicht integrierbar, sollen bleiben, wo sie herkommen. Wir wollen behalten, was wir haben, wir bleiben wie wir sind. So wird die Aufklärung zur Waffe zum Erhalt des Status quo der Reichen und der Mächtigen. (. . .)

Aber warum passiert all das gerade jetzt, zu einer Zeit, in der weniger Menschen hungern denn je, weniger Menschen gewaltsam sterben, und in der in unseren Ländern mehr Wohlstand und mehr Sicherheit herrschen, als je zuvor? Weil es immer mehr Menschen mit der Angst zu tun bekommen. Immer mehr Menschen fürchten den Verlust von Besitz und Status, den Verlust einer vertrauten Welt, den Verlust der Hoffnung. Immer mehr Menschen sehen eine wachsende Kluft zwischen der offiziellen, liberal geprägten Wirklichkeit und dem, was sie selbst erleben.

Die globale Wirtschaftsordnung ist zu einer bitteren Parodie der aufgeklärten Gedanken mutiert, auf die sie sich beruft. Sie ersetzt die Rationalität durch die Rationalisierung, den Universalismus durch den globalen Markt, die Freiheit des Menschen durch die Wahl der Konsumenten zwischen Produkten, und die Gleichheit durch statistische Normierung. Bürgerrechte werden zu Garantieleistungen, denn in dieser Welt braucht man keinen Pass, sondern eine Kreditkarte.

Haltungen, durch die Demokratie erst möglich wird

Im globalen Maßstab hat diese Parodie der Aufklärung alte soziale Strukturen zertrümmert und hat, um mit dem polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman zu sprechen, eine „flüssige Moderne“ geschaffen, in der Gesellschaften, Märkte, Ökosysteme und Identitäten in dauerndem Aufruhr sind. Diese Parodie erklärt einen Teil der Angst, die in unsere Gesellschaften sickert. (. . .)

Angesichts der Politik von Angst und Hass, die sich auch in Europa immer weiter ausbreitet, ist es an der Zeit, zu begreifen, dass neben der Erderwärmung heute noch ein weiterer Klimawandel stattfindet, ein Wandel derjenigen zivilisierten und oft ungeschriebenen Regeln und Haltungen, durch die Demokratie erst möglich wird.

Eine liberale Demokratie ist eine sehr junge und fragile Regierungsform, ein historisches Experiment mit offenem Ausgang. Demokratie in unserem Sinn gibt es auch in vielen Ländern Europas überhaupt erstmals seit wenigen Jahrzehnten, und in manchen wird sie längst aktiv ausgehöhlt. Sie ist kein Naturzustand, sondern läuft immer Gefahr, selbst zur Kulisse zu verkommen, zum Legitimisierungstheater für Autokraten.

Demokratie kann die Voraussetzungen, die sie braucht, um zu bestehen, nicht selbst schaffen.

Sie ist nicht nur auf starke Institutionen angewiesen, sondern auch auf weniger klar definierbare Voraussetzungen: auf ein gewisses Grundverständnis, auf eine Art von Anständigkeit, Selbstkontrolle, Respekt im Umgang mit anderen, Respekt vor Fakten. Wenn diese Voraussetzungen unterminiert werden, gerät die Demokratie aus dem Gleichgewicht und wird irgendwann zusammenbrechen.

Das macht es so gefährlich, dass wir in ängstlichen Gesellschaften leben. Ängstliche Menschen denken anders, nehmen die Welt anders wahr als zuversichtliche. Jene, deren Beruf und Strategie es ist, Wählerinnen und Konsumenten zu manipulieren, wissen: Wer die Ängste kontrolliert, kontrolliert auch die Menschen.

So verschiebt sich das Meinungsklima fast unversehens weg von Ideen wie Menschenrechten und Freiheit und hin zu Identität und Sicherheit in einer feindlichen Welt und damit von der Diskussion zur Konfrontation. Vor dieser Drohkulisse verblasst die rationalistische Aufklärung zum Scherenschnitt mit gepuderter Perücke. (. . .)

Ist also die Aufklärung überholt, ist sie hoffnungslos kompromittiert durch ihre Nähe zur Macht, oder ist sie, wie manche argumentieren, überhaupt ein Fehler gewesen, ein historischer Irrweg? Aufklärung ist riskantes Denken. Wir, die Erben, wollen dieses Risiko nicht mehr eingehen. Wir wollen eigentlich keine Zukunft, wir wollen nur, dass unsere privilegierte Gegenwart nie aufhört, obwohl sie zusehends um uns herum bröckelt und gespalten wird.

Um das, was kommt, nicht zu erleiden, sondern zu gestalten, bedarf es nicht nur neuer Technologien und Effizienzsteigerungen, keiner hohen Mauern und keiner Abschreckung, sondern einer Transformation des westlichen Lebensmodells, denn erst wenn Menschen wieder einen realistischen Grund zur Hoffnung haben, wird die Angst verschwinden.

Dafür brauchen wir den Mut, wieder etwas zu riskieren beim Nachdenken über die Welt und über die eigene Position in ihr. Die Aufklärung ist nötiger denn je, aber nicht in ihrer rationalistischen Verengung oder ihrer ökonomischen Parodie.

Für meinen besonderen Freund, den Enzyklopädisten Denis Diderot, war die Erfüllung des Lebens schon Mitte des 18. Jahrhunderts nicht die Rationalität, sondern die volupté, die Sinnlichkeit, die Lust.

Ich bin Mensch, weil ich mit anderen empfinde

Wir leben nicht aus Vernunft allein; wir verdanken unser Leben buchstäblich dem Begehren, dem Eros, der uns täglich antreibt weiterzumachen, der uns den Mut gibt, Rückschläge zu überwinden, neue Möglichkeiten zu suchen, mit anderen zu kommunizieren. Aber Sinnlichkeit ist kein Wettbewerb rationaler Individuen. Begehren und Empathie brauchen, suchen Kommunikation und Berührung, schaffen Auseinandersetzung und Solidarität.

Ich bin Mensch, weil ich begehre, weil ich mit anderen Menschen mitempfinde; und ich kann nur dann gut leben, wenn auch andere es tun. Und plötzlich entsteht aus dem Begehren eine Ethik. Das aufgeklärte Denken beginnt, zu unserer Leidenschaftlichkeit zu sprechen – und sogar zu unserer Angst.

Was wäre, wenn eine neue, dringend gebrauchte Aufklärung mit einer Rehabilitierung der Leidenschaft beginnen würde? Was wäre, wenn wir uns als leidenschaftliche Wesen begreifen würden? Dann würden wir begreifen, dass wir nicht erhaben sind über die Natur, sondern mitten in ihr. Wir würden sehen, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, dass die Erde uns nicht untertan ist, sondern dass wir ein winziger Teil eines komplexen Systems sind, das übrigens auch ohne uns weiter bestehen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2018)

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