Narrentreiben auf der Datscha

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„Menschen von hoher, intellektueller Kraft kommen hier zusammen“, sagt der „Sommergäste“-Regisseur Evgeny Titov. Doch ortet er auch Kälte und Egoismus.

Die erste Vorstellung war der schönste Tag in meinem Leben“, jubelt Maxim Gorki nicht ohne Grimm über die Uraufführung der „Sommergäste“ 1904 in St. Petersburg. Die wirtschaftliche und politische Situation in Russland ist wegen des Krieges mit Japan angespannt. Gorki aber wendet sich nicht gegen den Zaren und die Aristokratie, deren Regime von revolutionären Umtrieben erschüttert wird, die auf den großen Aufstand 1917 vorausweisen. Sondern er beschreibt eine Mittelschicht, die sich abgeschieden auf dem Land teils kuriosen, teils frivolen Sommervergnügungen hingibt. Das Publikum erkannte sich in den Figuren auf der Bühne – und es war wütend. „Niemals habe ich bisher in solchem Maße und mit solcher Tiefe erlebt – und werde es wohl nie mehr erleben – über welche Kraft ich verfüge, welche Bedeutung ich im Leben habe“, schreibt Gorki, der Dichter, der sich aus elenden Verhältnissen emporgearbeitet hat und die Stände der Gesellschaft seiner Zeit abbildet, von den zerlumpten Gestalten in „Nachtasyl“ über die „Kleinbürger“ bis eben zu den Anwälten und Ärzten bzw. Ärztinnen in den „Sommergästen“.

Martin Schwab zitiert Fichte. „Handle, als hinge von deinem Tun allein das Schicksal ab.“ Um sein Alter macht sich der 81-Jährige keine Gedanken: „Nicht für fünf Pfennige!“
Martin Schwab zitiert Fichte. „Handle, als hinge von deinem Tun allein das Schicksal ab.“ Um sein Alter macht sich der 81-Jährige keine Gedanken: „Nicht für fünf Pfennige!“(c) Salzburger Festspiele/Reinhard Werner

Sie versammeln sich auf jenen Datschas, für die Tschechows „Kirschgarten“ gefällt wurde, in manchen Momenten wirken die „Sommergäste“ mit diesen verbunden oder als eine Art Fortsetzung des Tschechow-Stückes. Gorki stand bei der Uraufführung seiner „Szenen“, wie er das schildert, „direkt an der Rampe, . . . bereit zu jedem Wahnsinn, wenn einer gezischt hätte.“ Niemand zischte, aber später, so Gorki, „schrie das Publikum mit rasenden Stimmen närrische Worte, die Wangen glühten, die Augen blitzten, irgendjemand schluchzte und schimpfte . . .“ 1905 nahm Gorki am Streik der Arbeiter am 9. Januar, dem Blutsonntag von Petersburg, teil: Soldaten schossen auf Demonstranten. Er wurde verhaftet und in die Peter-und-Paul-Festung gebracht. „Sommergäste“ wurde abgesetzt, bald aber wieder freigegeben.

Genija Rykova. Die Schauspielerin spricht Russisch und Deutsch als Muttersprache. Sie spielt die ob ihrer Kinderlosigkeit unglückliche Warwara Michajlowna.
Genija Rykova. Die Schauspielerin spricht Russisch und Deutsch als Muttersprache. Sie spielt die ob ihrer Kinderlosigkeit unglückliche Warwara Michajlowna.(c) TTEM/dpa Picture Alliance /picturedesk.com

In Salzburg inszeniert Evgeny Titov. Er springt kurzfristig für die erkrankte Regisseurin Mateja Koležnik ein. Der 39-jährige Russe studierte zunächst Schauspiel an der Theaterakademie in St. Petersburg und arbeitete mehrere Jahre lang als Schauspieler. Danach studierte er am Wiener Reinhardt-Seminar Regie. Was sagt er über „Sommergäste“? Titov: „Das Stück lässt ein unglaubliches Potenzial für eine reflektierte Gesellschaft erkennen. Die intellektuelle Kraft der Menschen, die hier zusammenkommen, ist enorm. Sie analysieren ihre eigene Existenz sehr genau und stellen die richtigen Fragen – handeln aber nicht. Stattdessen verstricken sie sich hochemotional in ihre jeweilige Gedankenwelt, in Sublimation statt Aktion. Werden sie mit einer unangenehmen Tatsache konfrontiert, reagieren sie nicht adäquat. Unter der Oberfläche treten Gleichgültigkeit, Kälte und Egoismus zutage. Einen Ausweg aus einem solchen Dasein gibt es immer. Ob die Figuren an diesem Abend den Mut dazu aufbringen, werden wir herausfinden.“ Auf der Halleiner Pernerinsel wird Titov ein diverses Ensemble zu dirigieren haben.

»Die Elite – das sind nicht wir! Wir sind Sommergäste in unserem Land . . .«

Freier Wille oder Schicksal. Da ist zum Beispiel Genija Rykova, sie spielt eine Hauptrolle, die Warwara Michajlowna, Frau eines Rechtsanwalts, die unter ihrer Kinderlosigkeit leidet. Rykova, 1986 in Irkutsk geboren, ist zweisprachig aufgewachsen – als Tochter einer Psychotherapeutin und eines Bühnenbildners in München. Rykova studierte an der Bayerischen Theaterakademie, Martin Kušej holte sie 2012 ans Residenztheater. Rykova ist auch Sängerin. Ihre Songs sind auf Youtube zu hören. Primož Pirnat spielt Warwaras Alkohol und unberechenbarem Intrigantentum zugeneigten Ehemann Bassow. Martin Schwab ist als „Onkel Doppelpunkt“ zu erleben, dieser ist ein Rentier, der seine Fabrik (Butter und Fleisch) an Deutsche verkauft hat und jetzt nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Damit hat Schwab kein Problem, seit 1987 ist der heute 81-Jährige am Burgtheater engagiert, nach der Spielserie in Salzburg und einer kleinen Kur im Moorbad Großpertholz im Waldviertel, wird er kommende Saison wieder in mehreren Rollen in der Burg zu sehen sein – in der neuen Direktion von Kušej. Das Alter sollte einen nicht allzu sehr beschäftigen, ist Schwab überzeugt: „Wir Kinder ärgerten uns oft über unseren Vater, der Pläne immer mit dem Zusatz „wenn wir es erleben“ versah. Ich mache mir keine Gedanken über das Alter, nicht für fünf Pfennige. Natürlich möchte niemand ein Pflegefall werden. Aber je weniger man darüber grübelt, umso besser.“ Wie stark sind wir mit der Antike verbunden, das ist heuer das Motto der Salzburger Festspiele. „Sommergäste“ ist da sozusagen die Antithese, die Figuren in diesem Stück sollten eigentlich die Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Könnten sie aus ihrem Schicksal aussteigen? „Schwer zu sagen“, überlegt Martin Schwab: „Als Individuum und als Zuschauer muss man glauben, dass man etwas ändern kann. Es gibt ja dieses Zitat des Philosophen Johann Gottlieb Fichte: „Und handeln sollst du so, als hinge von dir und deinem Tun allein das Schicksal ab und die Verantwortung wäre dein!“ Viele Menschen, auch junge, meint Schwab, den Neurologen, Psychiater und Buchautor Viktor Frankl zitierend, „leiden heute am sinnlosen Leben, manche begehen sogar Selbstmord.“ Menschen, die alles zu haben scheinen wie in Gorkis Stück. Schwab: „Es kann sein, dass die Depression mit der Abwesenheit von Religion zu tun hat. Religion bedeutet Bindung. Die Möglichkeit, für Geld alles zu kaufen, kann Werte nicht ersetzen. Man muss das neue T-Shirt oder das neue Handy haben, aber es befriedigt einen nur kurz. Ich habe kein Handy.“ 

Till Firit. Er spielte am Wiener Volkstheater und zuletzt am Münchner Residenztheater. „Sommergäste“ sei ein Spiegelbild der Gesellschaft, so Firit.
Till Firit. Er spielte am Wiener Volkstheater und zuletzt am Münchner Residenztheater. „Sommergäste“ sei ein Spiegelbild der Gesellschaft, so Firit.(c) Eva Mayer

Gorki und Thomas Bernhard. Was ist für Schwab wichtig an seiner Rolle? „Onkel Doppelpunkt ist betagt, aber nicht gebrechlich. Er ist Millionär, aber auch er weiß nichts mit sich anzufangen. Das ist das Zeitlose an diesem Stück, alle diese Menschen haben Schwierigkeiten mit ihrem Leben und ihren Beziehungen, die teilweise in Auflösung sind. Das hat der Gorki toll entdeckt, und eine gewisse Form von Verweigerung.“ Wie bei Thomas Bernhard. Schwab erinnert an Bernhards „Alte Meister“: „Da gibt es diese Szene, wo der Alte hinunterschaut auf den Kohlmarkt, seine Frau, sein Lebensmensch, ist gestorben. Und er sieht keinen Sinn mehr. Er sagt, ich will nicht mehr zu diesen Leuten zurück, die da mit ihren Sackerln und Packerln herumlaufen. Er hat eine das Leben verabscheuende Brille auf.“ Gibt es eine bessere Gesellschaft? Schwab: „Ich weiß es nicht, eigentlich bin ich der Meinung: Bestimmt nicht. Von diesen ,Sommergästen‘ kann jeder im Publikum sein Teil ablesen – und wenn es eine Diskussion gibt, umso besser!“ Einige der Sommergäste richten Waffen gegen sich selbst und andere. Schwab grinst: „Sehen Sie! Ein Schauspieler muss nie in eine Anstalt. Er kann alles ausleben und rauslassen wie es die Psychiater so gern empfehlen, das macht er auf der Bühne.“ Niemals zu Hause? „Nein. Ich spiele nicht zu Hause, aber wenn ich mich aufrege, fuchtle ich herum und dann sagt meine Frau, pass auf, du zerbrichst das Glas von der Lampe. Ich drehe schon manchmal durch, dafür bin ich nicht fähig, sauer oder nachtragend zu sein.“ Was regt ihn denn so auf? Schwab: „Ich bin jetzt versucht, ein hehres Wort zu sagen: Wenn anderen Menschen Unrecht geschieht! Da kann ich in blinde Wut verfallen. Oder wenn in der Arbeit die Kollegen meiner Ansicht nach falsch mit Texten umgehen. Dann werde ich unruhig und rufe: Geht doch mal in die Tiefe!“

Evgeny Titov. Der 1980 geborene Russe studierte am Reinhardt-Seminar, inszenierte den „Eingebildeten Kranken“ in Wiesbaden und „Hexenjagd“ in Düsseldorf.
Evgeny Titov. Der 1980 geborene Russe studierte am Reinhardt-Seminar, inszenierte den „Eingebildeten Kranken“ in Wiesbaden und „Hexenjagd“ in Düsseldorf. (c) Thomas Rabsch

Spieler und Charmeur. Schauplatzwechsel zu Till Firit. 1977 in Leipzig geboren, spielte er unter Michael Schottenberg am Wiener Volkstheater, zuletzt aber am Münchner Residenztheater bei Kušej. In den „Sommergästen“ wird Firit als Spieler und leicht zwielichtiger Charmeur zu erleben sein. Was sagt er über das Stück? „Ich lese es als ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Eine ganze Menge mehr oder weniger befreundeter Sommergäste treffen aufeinander. Das Drama ist ein Kaleidoskop der jeweiligen Sorgen, Abhängigkeiten, Bedürfnisse usw., mit der jede Figur anders umgeht: Die eine verzweifelt, der andere trinkt, dem nächsten scheint alles egal zu sein. Wie da die Gewichtungen der einzelnen Konstellationen gezeigt werden, wird sich erst während der Proben zeigen. Meine Figur Samyslow ist in diesem Kaleidoskop eines der vielen Steinchen. Mal sehen, wie da wohin reflektiert wird und ob es auch zu interessanten Mustern mit meinem Scherflein kommen wird.“ „Sommergäste“ sei ein „echtes Ensemblestück“, ist Firit überzeugt.

("Die Presse", Salzburger Festspiele, 01.06.2019)

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