Stärker als Männer? Die Grenzen des weiblichen Körpers

Staerker Maenner Grenzen weiblichen
Staerker Maenner Grenzen weiblichen(c) EPA (HANNIBAL)
  • Drucken

Nach dem Erfolg der chinesischen Schwimmerin rätselt die Fachwelt, wie Ye Shiwen schneller als der schnellste Mann sein konnte. Eine Expertin erklärt, dass Frauen beim Schwimmsport weniger benachteiligt sind.

Kann es sein? Darf es sein? Eine junge Frau war schneller als der schnellste Mann. Zwar handelt es sich bei der Strecke, die Ye Shiwen souveräner als Lochte oder Phelps schwamm, „nur“ um die letzten 50 Meter der 400-Meter-Lagen-Disziplin. Aber immerhin nahm sie dem US-Sieger Ryan Lochte 0,17 Sekunden ab und dem Superstar Michael Phelps gar 0,8 Sekunden.

Schon in den ersten Meldungen, die nach diesem Erfolg versandt wurden, standen Fragen nach Doping im Raum (auch, weil chinesische Schwimmer vor etwa 20 Jahren reihenweise des Dopings überführt wurden). Doch Ye kommentierte trocken: „Wir trainieren sehr gut, auf sehr wissenschaftlicher Basis, deswegen haben wir uns so verbessert.“ Die „Presse am Sonntag“ fragte bei der ersten Professorin für Gender-Medizin nach, ob es biologisch möglich ist, dass eine Frau schneller als die schnellsten Männer schwimmt.

„Es ist eine große Ausnahme, aber grundsätzlich ist es möglich. Doch ich finde es arg, dass gerade dann, wenn eine Frau eine so tolle Leistung erbringt, sofort gerufen wird, dass es sich um Doping, Gendoping oder sonst eine getürkte Geschichte handeln muss“, sagt Alexandra Kautzky-Willer von der Med-Uni Wien.

Wenn ein Mann wie Usain Bolt oder Michael Phelps bei den letzten Olympischen Sommerspielen die anderen um Längen abhängt, sei das weniger das Thema. „Dabei zeigt die Geschichte, dass viel mehr Männer des Dopings überführt werden als Frauen“, fügt Kautzky-Willer hinzu.

Auch der Schwimm-Weltverband hat diese Woche gegen die Doping-Verdächtigungen von Ye Shiwen protestiert: Sie wurde viermal getestet, alle Ergebnisse waren negativ. „Aber es ist in unserer Gesellschaft so, dass Spitzenleistungen von Frauen schwerer akzeptiert werden als die von Männern, egal ob im Sport, in der Wirtschaft oder anderen Bereichen“, sagt Kautzky-Willer.


Sauerstoff. Ihr Spezialgebiet ist es, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf naturwissenschaftlicher Basis zu klären: Die Gender-Medizin will allen Menschen ein gesünderes Leben ermöglichen, indem man für jeden und jede die geeignetste Behandlung findet.

„Ein biologischer Unterschied, der beim Sport tragend wird, ist die Sauerstoffversorgung des Körpers, vor allem der Muskeln. Und die Art, wie die Muskeln kontrahieren und Kraft aufbauen“, sagt Kautzky-Willer. Männer haben größere Herzen als Frauen, pro Herzschlag und pro Minute wird mehr Blut durchgepumpt, außerdem ist mehr Hämoglobin im Blut, das für den Sauerstofftransport wichtig ist.

Zudem haben Männer im Durchschnitt ein größeres Lungenvolumen als Frauen, die hingegen öfter pro Minute atmen – und auch eine höhere Herzfrequenz als Männer haben. „Die Sauerstoff-Aufnahme-Kapazität ist bei Männern dadurch höher, sie haben auch mehr Knochenmasse und mehr Muskelmasse.“

Hinzu kommt das unterschiedliche Verhältnis von Körperfett (der Fettanteil bei Frauen beträgt etwa 28 Prozent, der bei Männern 18 Prozent) und der unterschiedliche Körperbau (rumpfbetont bei Frauen, extremitätenbetont bei Männern).

Nicht zu vergessen: die unterschiedlichen Hormonspiegel. Das männliche Testosteron hat eine anabole Wirkung, die den Muskelaufbau fördert. Bei Frauen schwankt die sportliche Leistung und Trainierbarkeit mit dem Zyklus: In der ersten Hälfte des Zyklus wirken die Östrogene stark anabol, was gut ist für den Muskelaufbau. Doch in der zweiten Zyklushälfte sinkt die Leistungsfähigkeit. „Aber viele der Frauen im extremen Spitzensport haben gar keinen normalen Menstruationszyklus – durch den veränderten Hormonhaushalt während des exzessiven Trainings“, erklärt Kautzky-Willer.


Der „Gender-Gap“. Jedenfalls erklären all diese Faktoren den berühmten „Gender-Gap“: den Leistungsunterschied zwischen Männern und Frauen in fast allen sportlichen Disziplinen. Eine französische Studie aus dem Jahr 2010 verglich die Bestleistungen der Olympioniken seit Beginn der Aufzeichnungen: Stets waren die Frauen „schlechter“ (langsamer, weniger weit, weniger stark etc.) als die Männer.

„In den ganz frühen Jahren gab es noch starke Steigerungen der Spitzenleistungen, sowohl bei Männern als auch bei Frauen“, sagt Kautzky-Willer. „Frauen sind aber erst spät in den olympischen Sport eingestiegen: Ihre Trainingsbedingungen waren schlechter und trotzdem haben sie den enormen ,Gender-Gap‘, der anfangs noch bestand, schnell verringern können.“

Etwa bis in die 1990er-Jahre hat sich der Unterschied der Spitzenleistungen zwischen Männern und Frauen verkleinert, seither hat sich der „Gender-Gap“ im Schnitt bei zehn Prozent eingependelt. „Auch heute haben Frauen oft schlechtere Ressourcen beim Training und verdienen schlechter, doch diese zehn Prozent sind wohl auf Unterschiede in der Biologie zurückzuführen“, so Kautzky-Willer.

„Man muss aber genau hinschauen, denn in verschiedenen Disziplinen ist der ,Gender-Gap‘ unterschiedlich groß: in Sprint- und Sprungdisziplinen bis zu 20 Prozent. Denn bei Frauen liegt der Körperschwerpunkt tiefer – durch das stärkere Becken.“ Das erklärt, warum der Weltrekord im Weitsprung bei Männern (8,95 Meter) um 19 Prozent weiter ist als jener der Frauen (7,52 Meter) und im Stabhochsprung der beste Mann um 21 Prozent höher kommt (6,14 Meter) als die weltbeste Frau (5,06 Meter).

Im Schwimmbecken hingegen wirken sich die biologischen Unterschiede weniger gravierend aus: „Frauen haben einen sehr stromlinienförmigen Körper und durch den höheren Fettanteil und das niedrigere Gewicht auch mehr Auftrieb“, sagt Kautzky-Willer. Zudem schützt das Fettgewebe vor großem Wärmeverlust im kalten Wasser: Daher verringert sich bei den Schwimmdisziplinen der Gender-Gap auf sechs bis zehn Prozent.


Einzigartige Ye Shiwen. Der neue Rekord von Ye Shiwen in 400-Meter-Lagen liegt mit 4:28,43 Minuten nur 8,7 Prozent hinter Ryan Lochtes Siegeszeit mit 4:05,12 Minuten. Am knappsten kamen die Frauen in der Analyse von 2010 an die Männer bei 800-Meter-Freistil heran: nur sechs Prozent Gender-Gap. „Auch beim Eisschnelllauf und Radfahren zeigt sich der körperliche Unterschied nicht so stark wie in Lauf- oder Sprungdisziplinen“, sagt Kautzky-Willer. Sie hat den Hype um Ye Shiwen aus persönlichem Interesse verfolgt und sieht noch einen Grund, warum gerade diese junge Frau heraussticht: „Ye ist 16 Jahre alt, das ist genau der Zeitpunkt, bei dem Frauen das Maximum ihrer Kapazität der Sauerstoffaufnahme erreichen. Bei Männern ist das später, etwa mit 18 Jahren.“

Auch die Statur (sehr groß, schlank) spricht für die junge Chinesin. „Da sie auch sehr große Hände hat, die angeblich schon im Kindesalter auffallend waren, wurde gleich vermutet, dass höhere Wachstumshormonspiegel mit im Spiel sein könnten“, sagt die Expertin. „Doch dann würden auch verschiedene andere körperliche Veränderungen auftreten, ihr Kinn wäre dominanter, die Gesichtszüge grob.“ Auch nach einem Überschuss an männlichen Hormonen sieht Ye nicht aus, sie hat weder starke Akne, noch sieht sie burschikos aus. Doch auch diese Untersuchungen wird die junge Sportlerin nun über sich ergehen lassen, bis der Beweis vorliegt, dass hier alles mit rechten Dingen zuging.

Die Gender-Medizinerin betont jedenfalls, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau im Spitzensport viel geringer ausfallen als im Hobbysport: „Denn im Alltag kommen die mentalen Faktoren dazu, tradierte Rollenbilder beeinflussen auch die Leistung.“ Männer sind von Grund auf risikofreudiger, gehen mehr an ihre Grenzen und sind wettbewerbsorientiert – mit weniger Versagensängsten.

Frauen betreiben Sport eher zur Gewichtsregulation, um den Körper in Form zu halten, aus Schönheitsansprüchen oder um der Gesundheit willen. Der Kampfgeist, sich mit den Besten zu messen, gehört im Alltag zum männlichen Rollenbild. „Im Spitzensport fallen diese Stereotypen weg, da geht es allen um das Gewinnen und so sind die biologischen Faktoren eindeutig sichtbarer“, sagt Kautzky-Willer.


Tradierte Rollenbilder. Spannend sei auch, dass in der einzigen olympischen Disziplin, in der Männer und Frauen einzeln gegeneinander antreten, nämlich dem Reiten, doch auch ein Geschlechterunterschied zu erkennen ist: „Beim Dressurreiten, wo es mehr auf das Künstlerische und Ästhetische ankommt, sind unter den Topplatzierungen stets mehr Frauen.“ Jedoch beim Springreiten, wo es quasi um „höher, schneller, weiter“ geht, sind wieder die Männer dominierend.

Auf die Frage, ob sich ihre Beobachtungen der Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht gegen die Frauenbewegung richten, muss Kautzky-Willer schmunzeln. „Ich sehe mich selbst auch als Feministin. Doch ich bin als Naturwissenschaftlerin auf der Suche nach der Wahrheit. Und die biologischen Voraussetzungen sind nicht zu leugnen.“

Neben der genetischen Grundausstattung spielt auch die Aktivität der Gene eine wichtige Rolle: Sie wird über Umweltfaktoren gesteuert (Epigenetik): Lebensstil, Training und psychosoziale Faktoren wirken auf den Körper und die Zellen ein und machen uns Frauen und Männer zu unterschiedlichen Wesen. „Natürlich sind wir aber auch alle gleich: im Sinne von gleichwertig. Wir brauchen die gleichen Rechte, den gleichen Zugang zu Bildung und sollen in jeder Weise gleich gut behandelt werden.“

Anatomie

Frauen sind im Durchschnitt um zehn bis 15 Zentimeter kleiner und zehn bis 20 Kilogramm leichter als Männer. Der Körperbau ist bei Frauen rumpfbetont, bei Männern sind die Extremitäten betont. Männer haben größere Herzen, größere Lungen und mehr Hämoglobin, daher werden die Muskeln besser mit Sauerstoff versorgt und die körperliche Leistungsfähigkeit ist höher. Frauen haben einen höheren Anteil an Körperfett (28 Prozent) als Männer (18 Prozent) und einen niedrigeren Muskelanteil (36 bzw. 42 Prozent).

Die grauen Zellen

Auch die Gehirne von Männern und Frauen unterscheiden sich deutlich. Beim Mann ist das Hirn im Durchschnitt um elf Prozent größer, es enthält in bestimmten Arealen wie dem Kleinhirn mehr „graue Substanz“. Manche Gehirnregionen sind bei Frauen größer, etwa die Frontallappen. Bei Frauen ist das limbische System aktiver – dort werden vor allem Emotionen verarbeitet, bei Männern ist der präfrontale Cortex aktiver, der für das rationale Denken wichtig ist. Und: Bei Frauen sind mehr Gehirnstrukturen aktiviert als bei Männern – sie verarbeiten also mehr Informationen, und diese umfassender und detaillierter.

Die Biochemie

Der Stoffwechsel funktioniert bei den beiden Geschlechtern unterschiedlich: Alle Umsetzungsprozesse im Körper werden, wie man erst seit Kurzem weiß, völlig anders reguliert. Zudem haben die Geschlechtshormone viele Auswirkungen auf Körper, Geist und Verhalten. Eine der Folgen: Viele Medikamente wirken bei Männern anders als bei Frauen.

Wie man sich gibt

Auch im Verhalten gibt es zahlreiche Unterschiede. So stellen sich Frauen schon im Kindergartenalter weniger gern einer Wettbewerbssituation, Männer sind risikofreudiger und überschätzen ihre Leistungsfähigkeit viel häufiger. Dabei spielen zum einen genetische und hormonelle Faktoren eine Rolle, mindestens genauso bedeutsam sind aber gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse wie zum Beispiel Rollenbilder.

Folgen im Alltag

In der traditionellen Männerwelt sind Frauen wegen dieser Unterschiede oft diskriminiert. So sind etwa
Autositze derzeit so konstruiert, dass Männer bei Heckkollisionen ein halb so großes Verletzungsrisiko haben wie Frauen. Auch in der Medizin wird der Unterschied bisweilen nicht ausreichend berücksichtigt: Bei manchen Krankheiten, z.B. bei Herzinfarkt, zeigen Frauen völlig andere Symptome als Männer – in der Praxis wird die Ursache daher oft nicht richtig erkannt. ku/vers

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.