Reiseziel USA: Die fetten Jahre sind vorbei?

(c) AP (David Zalubowski)
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Eigenheime, Spritpreise, dicke Straßenkreuzer – scheint fast so, als wäre in den Vereinigten Staaten Schluss mit Überfluss.

Es war ein Kolibri. Nein, es waren zwei. Sie flatterten mit schnellem Flügelschlag, wie er den Kolibris eigen ist, um ein Gefäß mit Körnern und flogen dann summend ins Blaue davon. Ich sah sie oft, wenn ich auf der Terrasse, der „porch“, des Bed-and- Breakfast-Hauses in Vermont saß.


Kolibris zu sehen – war das wirklich einer meiner wenigen positiven Eindrücke diesmal in den Vereinigten Staaten? Ich habe sie insgesamt rund ein Dutzend Mal bereist, zuletzt vor zwei Jahren. Hat sich wirklich so viel geändert? Was ist mit meinem Amerika passiert?
Zuerst das Positive. Das Lächeln ist das gleiche geblieben. Wildfremde Menschen, denen Sie auf der Straße begegnen, scheinen ermunternd sagen zu wollen: Welcome! Die Hilfsbereitschaft ist so groß wie ehedem. Die Städte (ich sah sie diesmal wieder, von Boston bis Chicago) schienen mir sauberer als früher. No littering! Auch auf den Highways wird man dazu ermahnt: Nichts wegwerfen!


Und die Hauptsache, der wichtigste Punkt in diesem Register der erfreulichen Eindrücke: Das Land ist billig. Sehr billig sogar. Wenn man mit Kreditkarten zahlt, kann man sogar hoffen, dass der Dollar noch weiter sinkt und die Abrechnung noch angenehmer ausfällt – für die Europäer. Die Amerikaner indes leiden. Vor allem unter dem hohen Benzinpreis. Was die Gallon, das sind vier Liter, kostet, verzeichnen die Zeitungen täglich auf Seite eins. Und täuscht es, dass ich weniger Autos im nach wie vor überaus dichten Verkehr gesehen habe, obgleich die Staus zu den Stoßzeiten gleich geblieben sind, es „bumper to bumper“ nur langsam weitergeht?


Täuscht es auch, dass die Finanzkrise der USA selbst den Touristen auffällt?
Ich habe noch nie so viele Einfamilienhäuser gesehen, in deren Vorgarten das Schild „for sale“ steht. Die Immobilien sind nicht mehr, was sie waren. Viele von ihnen stehen zum Verkauf. Zu viele.

Fleisch, das überquillt


Amerika in diesem Sommer. Ein weites Land, ein schönes Land. Und noch immer die „Affluent Society“, wie sie John Kenneth Galbraith in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Es ist anno 1958 erschienen. Es herrsche vor allem in den USA ein nie da gewesener Überfluss, schrieb damals der Diplomat und Ökonom. Überfluss?


An Körperfett jedenfalls. Body fat. Wo bleibt das Gesundheitsbewusstsein der Amerikaner? Die Fernsehstationen zeigen in ihren Werbespots vieles über die Befindlichkeit der Seher und vor allem auch der Seherinnen. Mehrmals am Tag und in verschiedenen Programmen sah ich diesmal eine Propaganda für Cialis.


Sie wissen nicht, was das ist? Ich wusste es auch nicht. Es ist etwas Ähnliches wie Viagra. Unbekümmert schildert ein lächelnder Sprecher die Wirkungen, freilich auch die Nebenwirkungen, die unliebsam sein können, inklusive Herzbeschwerden und erhöhten Blutdrucks. Und dann fügt der Moderator eine offenbar besonders gefährliche mögliche Konsequenz hinzu, die einen sofortigen Arztbesuch notwendig mache: Wenn die Erektion länger als vier Stunden dauert, muss man zum Doktor, wird man belehrt.


Sind die Amerikaner wirklich auch weniger prüde geworden? Keineswegs. Immer noch werden in den Magazinen und Zeitungen die „four letter words“ nicht ausgeschrieben. Das Wort „fuck“ wird gesprochen, aber nicht gedruckt. Und dass in der Highschool des kleinen Ortes Gloucester 17 Mädchen einer Klasse gleichzeitig schwanger wurden, sei nicht auf einen „Pakt“ zurückzuführen gewesen, wie der Bürgermeister per TV mitteilte. Es sei offenbar einfach aus Spaß geschehen.


Noch einmal: Hat sich die Moral geändert, in der einen oder der anderen Richtung? Mir kommt es so vor. Solches bringt offenbar eine Affluent Society zustande, die freilich keine mehr ist. Die Überflussgesellschaft zeigt sich dafür in der erwähnten Dicke. Fast sieht es so aus, als ob es seit den letzten zwei Jahren, also meiner letzten Reise in die USA, noch mehr fette, jawohl, fette Menschen gibt, als je zuvor. Es sind vor allem Frauen, die sich unbekümmert in kurzen Hosen zeigen, unter denen die Schenkel hervorquellen und über denen die Bäuche hängen.


Unappetitlich geschrieben? Unappetitlich anzusehen, dutzendweise, hundertweise auf den Straßen. Selbst die Kinder neigen dazu, „obese“ zu sein. Zu dick. Zu fett. Die Lebenserwartung der Amerikaner sei nicht so hoch wie die der Europäer, höre ich. Es ist kein Wunder. Verwundernd ist nur die Nonchalance, mit der dieses Body fat herumgetragen wird. In jedem Restaurant, in jedem Kaufhaus sieht man es. Die „Affluent Society“ ist in der Tat eine fette Gesellschaft. Früher hat man mir gesagt, es handle sich dabei nur um die minderbemittelte Schicht, die sich vor allem von Junkfood ernähre und ihre Hamburger in sich hineinstopfe. Das ist, meine ich, nicht mehr wahr. Die Fettleibigkeit geht quer durch alle Kreise.

Nach dem Essen wegwerfen


Und sie fühlen sich in der Verschwendungsgesellschaft offenbar wohl. „The Wastemakers“ hieß vor Jahren ein Buch, das diese Verschwendungssucht der US-Bürger beschrieb und kritisierte. Vom „gezielten Verbrauchswert“ war darin unter anderem die Rede. Vom Leben in der Plastikumgebung, könnte man heute sagen. Was den CO2-Ausstoß betrifft, sind die Amerikaner noch immer schwerhörig.


Wird noch mehr weggeworfen als in früheren Jahren? Teller und Becher aus Kunststoff, Besteck aus Kunststoff, Tabletts aus Kunststoff – nicht nur in Selbstbedienungsrestaurants wird nach dem Gebrauch alles weggeworfen – verschwinden in den Abfallkübeln. Es ist dies wahrscheinlich eines der frappierendsten und zugleich negativsten Erlebnisse des US-Besuchers. Allein, was soll man wirklich tun mit den Pappbechern, in denen der Kaffee sich dünn ausmacht, ein wässriges Getränk, auch wenn er „freshly brewed“ ist? Wir haben zu Starbucks Zuflucht genommen, wo echter Espresso ausgeschenkt wird, wenngleich ebenfalls im Pappendeckelgeschirr, wenn man will, mit Deckel, damit man ihn auf der Straße trinken kann. Erstaunlich, dass Starbucks eine große Zahl von Niederlassungen in den USA zusperren muss.

Amischlitten sterben aus


Weitere touristische Kritik gewünscht? Sprechen wir vom Straßenverkehr. Das automobile Zeitalter fordert nach wie vor sein Recht, auch wenn – siehe vorige Seite – der Benzinpreis sich in letzter Zeit verdoppelt hat. Er ist noch immer weitaus geringer als in Europa und schmerzt doch. Das, was man früher als Amischlitten bezeichnete, ist nur mehr selten zu sehen und wurde oft durch japanische Wagen ersetzt.


Die amerikanische Autoindustrie klagt. Gelegentlich wird sie mit unfairen Mitteln verteidigt. Im Ford-Museum nahe Detroit, der zweifellos größten Verkehrsausstellung der Welt, zeigt eine bunte Tafel einen unglücklichen Kraftfahrer, der traurig den platten Reifen eines Volkswagens betrachtet. „Nobody is perfect“ steht darunter. Gedankenvoll steht man etliche Säle weiter vor einer Flotte schwarzer Limousinen – Gefährte, in denen Präsidenten chauffiert wurden. Auch der große Wagen ist darunter, in dem John F. Kennedy erschossen wurde. Er wird von den Besuchern kaum beachtet.


Das Land mit der größten Autodichte der Welt? Noch immer besitzt fast jede Familie mindestens zwei Wagen. Affluent Society! Der Amerikareisende muss sich freilich nach der nächsten Tankstelle erkundigen. In den Cities findet man keine, nur am Stadtrand sind sie angesiedelt. Und wer an Autobahn-Raststätten sucht, wird gleichfalls enttäuscht. Man muss den Highway verlassen, um den Tank zu füllen. Dass aber sogar ganze, weite Straßenstücke wegen Bauarbeiten gesperrt sind, verwundert in einem Land, das kaum Gehsteige hat, weil mit Ausnahme der großen Städte mit dem Auto selbst bis zur nächsten Straßenecke gefahren wird.


Übertrieben? So wie der Augenschein, der flüchtig ist – flüchtig wie der Kolibri, und auch so bunt. Der alte Spruch „Amerika, du hast es besser“ stimmt nicht mehr. Aber „es ist ein gutes Land, wohl wert, dass sich ein Fürst sein unterwinde“. Hätte Grillparzer das auch über die USA geschrieben? Wohl wert, dass sich ein Präsident diesem guten Land unterwinde. So lange er nicht George W. Bush heißt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2008)

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