Chiles Norden: Staubtrocken, aber vielfarbig

Spektakulär: El Tatio
Spektakulär: El TatioReuters
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Einer der höchstgelegenen Seen, die spektakulärsten Geysire oder eine der trockensten Wüsten der Erde: Der Norden des schmalen, ewig langen Andenstaates ist mit natürlichen Superlativen nahezu überversorgt. Wer mit dem Auto durch die endlose Weite fährt, wird vor allem von der bunten Tierwelt überrascht sein.

Lolli trottet auf die Schlange wartender Lastwagen zu. Neben der vordersten Fahrerkanzel reckt das Lama seinen langen Hals in die Luft und starrt mit den dunklen Knopfaugen durch das Seitenfenster. José, der Fahrer, kurbelt die Scheibe herunter und steckt dem schneeweißen Tier einen Keks zu. „Lolli ist im Parque Nacional Lauca bekannt wie ein bunter Hund“, schwärmt der Trucker, der den Park auf seinem Weg zwischen Bolivien und der chilenischen Küste regelmäßig durchfährt. Er hält der Lamadame weitere Kekse hin und schmunzelt. Lolli zieht den Kopf wieder ein, schüttelt sich, dann marschiert sie zum nächsten Laster.

Der Lauca-Nationalpark ist das nördlichste Naturschutzgebiet Chiles. Hier, in 4000 Metern Höhe auf dem Altiplano, dem nach Tibet höchsten Plateau der Welt, grasen kräftige Lamas, pummelige Alpakas und zierliche Vicunjas auf saftiggrünen Llareta-Flechten am Rande gleißender Salzseen. Weite Steppen und Sandwüsten breiten sich in den schönsten Brauntönen aus. Scheue Vizcachas, Verwandte der Chinchillas, blicken aus ihren Verstecken hinter Felsen, straußenähnliche Nandus schreiten durch die Stille. Ab und zu glitzert eine azurblaue Lagune in der Sonne, umwachsen von einem Meer goldener Grasbüschel, den Pajas Bravas. Dahinter ragen die Vulkane Parinacota und der rauchende Guallatiri über 6000Meter in den Himmel. Kaum Menschen, kein Auto. Nur manchmal schaut ein Dorf der Aymara-Indianer mit weiß getünchten Häusern und ebensolchen Kirchen hervor. Putre oder Parinacota heißen sie. Schon vor 30 Jahren machte die Unesco diese abgeschiedene landschaftliche Schönheit zum Biosphärenreservat, gemeinsam mit dem angrenzenden Nationalpark Las Vicuñas und dem Salzsee Salar de Surire, der bei Sonnenuntergang wie kein anderer in rosa Farben erstrahlt.

Kein Strauch, nur Sand, Stein, Steppe

Chiles Norden ist ein Nationalparkparadies. Zwei Dutzend ziehen sich vom Grenzdreieck Chile/Peru/Bolivien über tausend Kilometer durch die Anden. Wie ein natürlicher Grenzzaun kleben sie am Rande des lang gestreckten Gebiets in Südamerikas Westen. Gegenüber am Pazifik wacht ein lebendiger Küstenstreifen: die Hafenstadt Arica im Norden, Anleger für Kreuzfahrtschiffe, der beliebte Touristenort La Serena im Süden, dazwischen gemütliche Fischerdörfer und weite weiße Sandstrände. Das lockt Urlauber. Genauso wie die endlosen Wüsten. Sie dehnen sich überall zwischen dem Gebirge und der Küste aus.

Wohin man schaut, kein Baum, kein Strauch, nur Sand, Stein, Steppe, manchmal ein Säulenkaktus und die Panamericana, die scheinbar schnurgerade durch die Einsamkeit führt – es ist eine karge Gegend, in die jährlich 1,6 Millionen Touristen kommen. Für die Einheimischen ist sie pures Geschäft, schlummern doch unter der Oberfläche seit jeher kostbare Schätze. Bis ins 20. Jahrhundert bauten die Chilenen Salpeter in Wüstenminen ab, zur Herstellung von Schießpulver.

Große Bergarbeitersiedlungen sprossen aus dem sandigen Boden. Heute liegt die eine oder andere Oficina wie eine Geisterstadt in der Wüste: Lauca und Humberstone, Weltkulturerbe der Unesco, erinnern als Open-Air-Museen an die glorreichen Jahre und rotten langsam vor sich hin. Denn man konzentriert sich mittlerweile auf Kupfer. Längst ist das südamerikanische Land weltweit der Hauptlieferant für das rote Metall. Die Kupfermine Chuquicamata wurde sogar zu einer touristischen Attraktion. 20.000 Chilenen arbeiten hier, in einer riesigen, offenen Grube, tausend Meter tief, inmitten der Atacama-Wüste.

Salzsee in Türkis

Als eines der trockensten Wüstengebiete der Erde erstreckt sich die Atacama über 140.000 Quadratkilometer und ist damit größer als England. Noch während der Militärdiktatur unter Pinochet stand hier in den 1970er-Jahren ein Konzentrationslager. Heute ist die Wüste der beliebteste Touristenspot des Staates. Mittendrin: der Salar de Atacama. Chiles mächtiger Salzsee sieht aus wie ein aufgeplatztes Eisfeld. Kilometerweit drücken sich handdicke Salzfladen gegenseitig aus der Horizontalen. Manchmal schimmert eine jadefarbene Lacke oder eine Lagune in Türkis, manchmal wiehert ein Vicunja. In der Lagune Chaxa schnattert eine Flamingokolonie mit Blick auf die Andenkordilleren, die den Salzsee einrahmen.

Rotes Leuchten im Mondtal

Die Urlauber reisen aus der Oase San Pedro de Atacama an. Die kleine Wildweststadt ist das touristische Zentrum Chiles größter Wüstenlandschaft. Morgens, wenn die Luft noch klar ist und die Türen der Lehmziegelhäuser verschlossen sind, spielen Hunde in den sandigen Gassen, schlendern zwei, drei Atacameño-Indianer über die Plaza mit den haushohen Pfefferbäumen und der erdfarbenen kleinen Kirche aus dem Jahr 1744 – ein friedvolles Idyll. So muss es gewesen sein, als im 19. Jahrhundert die Handelskarawanen hier durchgezogen sind, von den Hafenstädten zu den Wüstenminen.

Am späten Vormittag, wenn die Sonne die staubigen Gassen erwärmt, erwacht der Wüstenort langsam: Restaurants stellen ihre Stühle auf die Plaza, Touranbieter ihre Werbetafeln in den Staub, Touristen hüllen die Gassen in bunte Farben. Sie planen den Besuch der Tres Marias, der drei Jungfrauen im Nationalpark Los Flamencos, die vor einer Million Jahren aus Salz, Lehm, Quarz entstanden sind und heute wie eine Skulptur urplötzlich aus der platten Unendlichkeit der Wüste herausragen. Und den Besuch der riesigen Sanddüne im Valle de la Luna, von deren Kamm man hinunter auf das trockene Mondtal, einen ehemaligen See, blickt. „Die Salz- und Felsformationen, die die Natur geschaffen hat, sind wunderschön. Ich habe meine Frau schon während der Hochzeitsreise hierhergebracht“, erzählt Christian aus Santiago stolz. „Wenn die Sonne das Tal immer wieder in rote und goldene Farben taucht, fehlen einem einfach die Worte“, ergänzt seine Frau, Paola.

Heißes Wasser, frequentierte Attraktion

Am nächsten Morgen um sechs Uhr stehen die beiden mit Haube und Mantel auf 4300 Metern Höhe, zwei Autostunden nördlich von San Pedro. Sie gehören zu den ersten Besuchern der El Tatio Geysire. Bei Tagesanbruch brodeln heiße Quellen, speien Geysire und Fumarolen meterhohe, über 80 Grad heiße Dampffontänen sonder Zahl in die Luft – ein spektakuläres Naturschauspiel. Die geschäftstüchtigen Chilenen haben schon vor Jahren versucht, hier Energie zu gewinnen. Zum Glück der Anwohner blieb der finanzielle Erfolg aus, und das Projekt scheiterte. So kommen weiterhin Touristen und sichern die Lebensgrundlage vieler Fremdenführer. Diese braucht man in Iquique nicht. Die schöne Küstenstadt ganz im Norden versteckt sich zwischen einer bombastischen Düne, dem Cerro Dragón, dem Meer und den Kordilleren, die hier senkrecht in die Erde ragen. Täglich strömen zahlreiche Sonnenanbeter mit Sonnenschirm, Fahrrad und Kinderwagen an die palmengesäumte Playa Cavancha. Manchmal schwebt ein Gleitschirmflieger am Himmel, rauschen Surfer über die Wellen.

Kaltes Wasser, einsame Insel

Was in Iquique ganz normal ist, gilt 800 Kilometer weiter südlich hingegen als Ding der Unmöglichkeit. Beim Fischerdorf Punta Choros am Meeresnationalpark Pingüino de Humboldt schwimmen stattdessen Delfine mit den Fischerbooten um die Wette. In eiskaltem Wasser. -Auf dicken Felseninseln watscheln Pelikane neben Kormoranen, brüten Hunderte von Humboldtpinguinen. „Früher haben wir uns mit Peru um die Vogelkolonien gestritten. Jeder wollte sie auf sein Territorium locken, denn die Fäkalien der Vögel waren als Dünger ein Vermögen wert“, erklärt Bootsführer Gustavo, lacht und manövriert seinen Kahn mit zwanzig Urlaubern in roten Rettungswesten möglichst nah durch die peitschenden Wellen. Die Passagiere jubeln. Die Vögel nehmen es gelassen, hat doch seit Jahren kein Mensch ihre Insel betreten. Man überlässt den Tieren ein weiteres Stück wilder Natur in Chiles atemberaubendem Norden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2017)

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