Autostopp: Trampen als verlernte Kulturtechnik

Trampen war damals noch Lebensform.
Trampen war damals noch Lebensform.Imago
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Der Hippie-Trail zum Hindukusch ist eine ausgestorbene Route. Und Interrail hat zwar Marokko eingebüßt – doch es lebt! Eine Bestandsaufnahme von drei Reisegenres des 20. Jahrhunderts.

Neulich habe ich einen Autostopper mitgenommen. Kein Profi, seinem Blick entnahm ich ein wenig Furcht. Ich versuchte es mit väterlicher Freundlichkeit – und es ging gut mit uns. Niemand kidnappte den anderen. Keiner zog Messer oder Pistole. Auch stellte sich heraus, dass wir weder Blut aussaugten noch Menschenfresserei praktizierten. Ich brachte meinen Tramper ein Stück weiter, ganz so, wie mich in den frühen Neunzigerjahren die vielen Autostopp-Adoptivpapas und -mamas zwischen Wien, Hamburg, Lissabon, Rom und Paris – einmal sogar bis Liverpool – hin- und her- und weitergebracht hatten.

Trampen war damals noch Lebensform. Weil Hollywood zu viele Filme mit Hitchhiker-Mördern und Vampiren produziert hatte, starb sie aus – den Rest gaben ihr die billigen Städteflüge, die jenen fetten ökologischen Fußabdruck hinterlassen, mit dem sich unsere Nachkommen herumschlagen werden. Viel Spaß! Unsere Generation hatte ihren Spaß, ja! Bei uns war anderes prioritär. Ging es der Wirtschaft gut, ging es allen gut, Smiley.

Der Untergang des beinahe zu 100 Prozent ökologischen Autostoppens war ein Kollateralschaden der schönen, brandneuen Welt. Mit ihm verschwand auch die hübsche, steinalte Idee der Durchquerung Eurasiens von West (Gibraltar oder Lissabon) nach Ost (Peking oder Wladiwostok).

Die klassische Route „Hippie Trail“, entstanden knapp nach der letzten Jahrhundertmitte, führte indes von London, Berlin oder Paris über den Hindukusch bis nach Goa oder Bangkok, falls man nicht vorher ins Himalaja-Massiv abbog. Man trampte, benutzte lokalen Verkehr oder reiste mit klapprigen Campingmobilen, VW-Bussen, Kleinwägen oder nicht helmpflichtigen Motorrädern. Heutzutage mutet die Durchkreuzung des Irak oder Afghanistans fast undenkbar an. Nur noch die Unerschrockensten suchen nach Schlupflöchern durch die geopolitische Misere Naher Osten.

Nacktes Mittagessen. William S. Burroughs (1914–1997) aus Missouri wollte die Welt kennenlernen. Er studierte Semantik und Medizin, Letzteres auch an der Universität Wien. Seine Homosexualität hatte er früh beschrieben – doch heiratete er 1937 in Athen die österreichische Jüdin Ilse Klapper, um ihr ein USA-Visum zu verschaffen. Dadurch überlebte Ilse Burroughs den Holocaust; 1946 ließen sie sich scheiden.

relikt. Der Pudding Shop in Istanbul existiert – in neotouristischem Zustand.
relikt. Der Pudding Shop in Istanbul existiert – in neotouristischem Zustand.(c) flickr/Stephen J Mason Photography (CC BY-SA 2.0), flickr/morebyless (CC BY 2.0)

Burroughs wirkte auch negativ, 1951 erschoss er in Mexiko seine zweite Frau, Joan, offenbar versehentlich, als sie im Rausch „Wilhelm Tell“ nachspielten und er das Wasserglas auf ihrem Kopf verfehlte. Der Heroinabhängige kam auf Kaution frei, wurde in Absenz zu zwei Jahren verurteilt, reiste lange durch Südamerika und landete schließlich in Tanger, Marokko, wo er abwechselnd Billigdrogen genoss und Entzug praktizierte. Denn ein populärer Nebenzweig der Eurasien-Durchquerung führte seit den Fünfzigerjahren nach Marokko. Die Pro­tagonisten waren wie Burroughs Beatniks – der Terminus Hippie sollte erst zur Zeit der Studentenrevolten aufkommen. Vorher hieß der Hippie-Trail nur „the overland“. Im nördlichen Teil seines Sonderfalls Marokko wurde mit der Internationalen Zone von Tanger („Interzone“) ein kleines Land zum Zentrum der reiselustigen angelsächsischen Homosexuellenszene. Von 1954 bis 1958 lebte Burroughs dort und verfasste den viel später weltberühmten Roman „Naked Lunch“ (1959), dessen Titel jenen Augenblick fokussiert, in dem sich der Heroinsüchtige seine Spritze gierig zuführt. Er schrieb auch Reisegeschichten, mindestens so interessante wie die vorliegende – doch niemand wollte sie drucken (danke, Zeitung!).

Freak Street und Chicken Street. An der Mehrheit der Hippie-Trailer ging der Totalexzess vorüber. Diese durchschnittlich Unkonventionellen rauchten bei Gelegenheit Cannabis und erfreuten sich an einer muslimischen Toleranz, wie sie heute nur noch auf Bilddokumenten existiert. In Städten wie Teheran, wo sie sich beim Amir-Kabir-Hotel versammelten (nicht identisch mit dem aktuellen gleichnamigen Hotel in derselben Straße), liefen die Frauen ohnehin mit den topaktuellen Frisuren aus Paris und London herum, die Männer trugen amerikanische Jeans- und Sonnenbrillenmode; von dieser säkularen Epoche blieb nur Letzteres.

Nepal hatte noch kein Haschisch-Verbotsgesetz – in der sogenannten Freak Street in Kathmandu florierte der freie Handel, unter anderem im vom Königshaus betriebenen „Royal Nepal Hashish Shop“, den es längst nicht mehr gibt. Auch die Chicken Street von Kabul, für viele ein Zentrum der Hippiewelt, besteht heute nur mehr als Schatten ihrer selbst. Doch der Pudding Shop in Istanbul überlebte – so hieß das Lale-Restaurant im Viertel Sultanahmed, das immer noch den mythischen Hühnerbrust-Pudding Tavuk Göğsü führt – leider in neotouristischem Zustand.

„Ja, das gab es früher“, schreibt H. H. Capor, „in Wien Süd einsteigen und zwei Tage später in Byzanz sein. Herrliche Architektur, lästige Basarverkäufer, das oder der Pudding Shop, in dem Mitfahrgelegenheiten angeboten wurden und von dem aus Busse nach Kabul starteten.“ Der Wiener Künstler und Fotograf verweist anhand dieses legendären Infocenters in seinem Buch „Geschichten nicht nur vom Reisen“ (2018) explizit auf die damals immense Bedeutung von Reiseproviant.

Ein Teil der Individualtouristen war auf individueller Sinnsuche, diese zielte auf Indien ab – Treffpunkt war der Wochenmarkt am Strand von Anjuna, Goa. Viele lebten einfach ihre Abenteuerlust aus. Ihre Busse wurden der kapitalistischen Gleichschaltung durch Bemalung entzogen. Für Leute ohne Fahrzeug war der Rucksack (bei Jack-Kerouac-Fans der Seesack) oder die lederne Reisetasche aus Kabuls Chicken Street ein unabdingbares Accessoire, noch wichtiger war freilich eine Meisterschaft in durch und durch analoger Kommunikation. Vor Lonely Planet und Co. gab es für die Regionen kaum Reiseführer, was den Hippie-Trail erst als solchen herausbildete. Das Fußvolk der Blumenkinder verließ sich auf die von Pionieren ausgetretenen Pfade, die vage der Seidenstraße folgten.

Bald stellten diese Alternativtouristen in Pakistan, Afghanistan oder Indien einen veritablen Wirtschaftsfaktor dar, Gästehäuser schossen aus dem Boden. Nun folgten auch Veranstalter wie die deutschen Rotel-Tours dem Trend – was die Original-Hippies zu ihrer Freude von den Epigonen distinguierte. Der Begriff „Hippie“ geriet in den Siebzigern bald in Verruf, selbst bezeichneten sich die Reisenden als „Freaks“ oder „Traveller“ – im Gegensatz zu den öden „Touristen“. Für viele ging es ja um Geldsparen, sie waren mit der Kohle der Eltern unterwegs, und je günstiger sie wirtschafteten, desto länger konnte die Reise dauern.

fernziel. Indien war das gelobte Land, der Weg heiligte alle  Verkehrsmittel.
fernziel. Indien war das gelobte Land, der Weg heiligte alle Verkehrsmittel. (c) NordNordWest,(CC BY-SA 3.0 de) via Wikimedia Commons

Zu dieser Zeit erschien im Schweizer Regenbogen-Verlag ein Guide mit dem Titel „Der billigste Trip nach Indien, Afghanistan und Nepal“. Jährlich folgten an die 50.000 Menschen dem Ruf des Orients, betrachteten Pferdewagen, Gebetsteppiche und Ochsenkarren, führten sich europäisch-hippiesk auf. Einige brachten das Sozialgefüge durcheinander, andere blieben für immer. Der Schwarze Afghane und die ungewohnte bakterielle Situation bekam nicht jedem. In Kabul wuchs ein kleiner, christlicher Friedhof, der erst in der Taliban-Zeit zerstört wurde. 1979 würgten zwei politische Ereignisse den Pfad weitgehend ab: der Einmarsch der UdSSR ins Cannabis-Dorado Afghanistan und die Khomeini-
Revolution im Iran. Nur mehr Einzelne schaffen es seitdem, sich mit Entschlossenheit, lokalen Verkehrsmitteln und Bakschisch durchzuschlagen – in Indien warten zur Belohnung Ex-Ashrams auf sie, die sich zu Appartement-Anlagen gewandelt haben.

Die spätere Komfortvariante: Interrail wird heute noch angeboten.
Die spätere Komfortvariante: Interrail wird heute noch angeboten. Imago

Winziger Bruder. An der Brust des Mutterkontinents brauchte man bald nicht mehr high zu sein, um frei zu sein. Das kleine europäische Nachfolgegenre des Hippie-Trails war Interrail, repräsentiert durch das Interrail-Ticket, zunächst für unter 21-Jährige von europäischen Eisenbahngesellschaften eingeführt, später für unter 26-Jährige, seit 1988 ohne Alterslimit. „Interrail, haben sie das nicht längst abgeschafft?“, fragen heute viele. Nicht im Geringsten, aber das Ticket wurde modifiziert. Interrail hat sich kaum verändert (nur Marokko und Russland fielen raus), die Welt durchaus. In den Neunzigerjahren, vor den Billig-Airlines, waren die Züge Europas gedroschen voll mit „uns“, der Generation der 16- bis 26-Jährigen. Statt uns in Großraumwaggons den Hals auszurenken, lagen wir im orgiengroßen Polsterbett gemütlicher Sechserabteile, und an der niederländisch-deutschen Grenze wurde Langhaarigen gern von zweifelhaften Dreckszöllnern mit Taschenlampen ins Hinternloch geleuchtet, wofür die Mitpassagiere das Abteil verlassen mussten. Die Holland-Drogen hatten diese pfiffigen Kerlchen im Vorfeld jedoch mit Tixo in den Toiletten angebracht.

Yksi, kaksi, kolme. Wir lagerten mit 500 weiteren Schlafsackmenschen in Venedig vor dem Bahnhof Piazzale Roma (auf dem Boden sitzen ist dort heute streng verboten!), wir übernachteten in Zügen, bis die spanischen Suplemento-Kontrollorgane uns eliminierten, wir genossen die Mitternachtssonne in Narvik, verfluchten die norwegischen Bierpreise, und nirgends hielt es uns allzu lang. Lokale Kulturen waren nicht vorrangig. Es ging darum, andere Interrailer kennenzulernen, Bekanntschaften zu schließen. Selten allzu profund, doch immerhin verließen wir den Interrail-Kursus mit Grundkenntnissen in Europa. „Yksi, kaksi, kolme“, zählten wir im Chor auf Finnisch bis drei.

Skrupellose (ich fürchte, ich war einer davon) verwendeten Interrail-Tickets mehrfach. Man fräste das Datum mit einer Rasierklinge aus und trug ein neues ein. Ein paar frische Seiten ins Heftchen hineinkopiert, schon hatte man eine fast perfekte Fahrkarte für den Folgemonat. Man konnte den Vorgang bis zu dreimal wiederholen, wobei das Resultat an Qualität einbüßte – und Schaffner angesichts des Gemetzels die Stirn runzelten. Das Ticket zerbröselte, sobald die Rasierklinge Löcher ins Papier schnitt – an diesem Punkt begann das große Autostoppen.

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