Marseille: Unterwegs in einem „spannenden Veränderungsprozess“

Das der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers in Marseille französisch Musee des Civi
Das der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers in Marseille französisch Musee des Civi(c) imago/Manngold
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Die Grazerin Carina Kurta und die Wienerin Pia Leydolt-Fuchs sind Expertinnen für Kulturhauptstädte, für Stadtentwicklung und Architektur. Niedergelassen haben sich die beiden mit ihrer Agentur CaP.CULT in Marseille und zeigen uns ihre Lieblingsplätze.

Europäische Kulturhauptstädte, sie sind die Spezialität von Carina Kurta und Pia Leydolt-Fuchs. Die beiden Österreicherinnen führen die Agentur CaP.Cult und beschäftigen sich seit Jahren mit den jeweiligen Kulturhauptstädten des Kontinents, von Riga bis Leeuwarden. Geblieben sind sie allerdings in Marseille, im Jahr 2013 Kulturhauptstadt. Von der südfranzösischen Hafenstadt am Mittelmeer aus vernetzen sie Kulturhauptstadt-Organisatoren mit ihren Besuchern, konzipieren Stadtrundgänge abseits touristischer Pfade, organisieren Workshops für Studien- und Architekturreisen sowie Treffen mit lokalen Akteuren und Künstlern – für ganze Delegationen, aber auch Privatpersonen.

Marseille kennen die beiden natürlich besonders gut, seit mehr als fünf Jahren wohnen sie hier, wissen um malerische Schauplätze, die versteckten Gässchen und Plätze ihrer neuen Heimat, einer Stadt, in der mehr als 860.000 Menschen leben. Und um ihre neuen kulturellen und architektonischen Hotspots, die nicht zuletzt im Zuge der Aktivitäten als Kulturhauptstadt entstanden sind. Marseille ist für Kurta und Leydolt-Fuchs eine Stadt der Vielfalt: Sie ist mit 2600 Jahren Geschichte die älteste – und zugleich die zweitgrößte und ärmste Metropole Frankreichs. In den belebten Straßen spiegelt sich das von Einwanderungswellen geprägte multikulturelle Miteinander; kosmopolitscher, rauer Charme am Mittelmeer trifft auf zahlreiche Neubauten – die Stadt befindet sich in einem „spannenden Veränderungsprozess“. Auf einem Spaziergang durch die Stadt erzählen uns Carina Kurta und Pia Leydolt-Fuchs von ihren Lieblingsplätzen und Adressen, von großen Architekturen bis hin zu kleinen Pensionen und witzigen Shops.

Architektur

„Marseille hat so viele spannende Aspekte und genauso viele Gesichter“, sagen Kurta und Leydolt-Fuchs, speziell gilt das für die neuen und älteren Bauten der Stadt. Das Viertel Euroméditerranée – die größte urbane Erneuerungsmaßnahme Südeuropas auf mehr als 480 Hektar – ist für Architekturfans ein Muss. Und ein Besuch der Docks, der beispielhaft sanierten Lagerhäuser aus dem 19. Jahrhundert, unumgänglich: eine Flaniermeile mit Geschäften, Restaurants und Ateliers, hier finden auch regelmäßig Ausstellungen statt. www.euromediterranee.fr

An der Nordseite, rund um den alten Hafen, liegt das MuCEM (www.mucem.org), das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers mit einzigartiger Architektur zwischen Moderne und Kulturerbe. Der Architekt Rudy Ricciotti hat den Kubus mit eleganter Spitze aus Beton entworfen, ein Fußgängersteg verbindet den Bau mit dem Fort Saint-Jean, errichtet im 17. Jahrhundert, renoviert im 20. Jahrhundert. Mit der schneeweißen Villa Méditerranée hat sich Architekt Stefano Boeri nebenan ein Denkmal gesetzt, dort gibt es ebenfalls Ausstellungen zu sehen. In der Nähe liegt auch das Musée Regards de Provence (museeregardsdeprovence.com), 1948 von Fernand Pouillon erbaut, zählt es zum Kulturerbe des 20. Jahrhunderts. Besonders nett: das Café-Restaurant im obersten Stock. Im Schatten der Docks kann man den blau schillernden Büroturm von Zaha Hadid (das höchste Gebäude der Stadt, 174 m hoch) bewundern, in dem eine Reederei untergebracht ist, und gleich danach Les Quais d'Arenc von Jean Nouvel entdecken.

Ein Klassiker der Architektur ist die Cité Radieuse, die „Wohnmaschine“, ein Meisterwerk von Le Corbusier aus dem Jahr 1952 und seit 2016 Unesco-Weltkulturerbe. Hier gibt es Führungen durch den 130 Meter langen Pfahlbau, eine Stadt in der Stadt mit etwa 1200 Bewohnern, 337 Wohnungen, Hotel, Restaurant, Buchhandlung, Shops, Kindergarten – und Pool auf dem Dach. Das Apartment 643, eine 90 Quadratmeter große Wohnung auf zwei Etagen, kann besichtigt werden, der Fußboden aus Eiche, die durch eine Schiebetür getrennten Kinderzimmer und die von Charlotte Perriand entworfene Küche mit Durchreiche sind noch im Originalzustand zu sehen.

Kunst und Kultur

Praktischerweise gleich auf dem Dach der Cité Radieuse hat der französische Designer Ora-ïto seine Galerie Mamo untergebracht. Ora-ïto gestaltet unter anderen für Louis Vuitton, Gucci, Sagem, ein stilvolles, arty Ambiente versteht sich da von selbst.

Wer es schafft, die steile Rue Sainte zu erklimmen, kann in der Galerie Béa-Ba wechselnde Ausstellungen von zeitgenössischen Künstlern besuchen. www.galerie-bea-ba.com. Und, ein Termintipp von Kurta und Leydolt-Fuchs: In Marseille grassiert bis 1. September das „Quel Amour“-Kunstfestival-Fieber (www.mp2018.com) mit vielen Programmpunkten, die für Besucher offen und gratis sind.

Bars und Restaurants

Der beste Platz, um beim Apéro das bunte Treiben am Hafen zu beobachten, ist die Bar La Caravelle. Was die wenigsten wissen: Der mikroskopisch kleine Balkon im ersten Stock gehört dazu und ist ein idealer (und sehr begehrter) Frühstücksplatz.

Der neue kulinarische Hotspot der Stadt ist die Épicerie L'Idéal, wo man einkaufen und mittagessen kann. Julia Sammut hat ihre persönlichen Lieblingsprodukte ausgewählt (vom Kräutertee bis zur Tomatensauce) und in die schmucken Holzregale gestellt. Schon eine Institution, alle Generationen sitzen dicht gedrängt an den langen Holztischen. www.epicerielideal.com

Die Schwestern Jeanne und Simone Laffitte aus Marseille betreiben im belebten Fußgängerviertel hinter dem Hafen nicht nur eine gut bestückte Buchhandlung und einen Verlag mit Kunstbüchern, sondern auch das stimmungsvolle Restaurant Les Arcenaulx, in dem man zwischen edlen, in Leder eingebundenen Büchern diniert. www.les-arcenaulx.com
Und natürlich, was wäre Marseille ohne seine Fischsuppe? Wer die Bouillabaisse, die kulinarische Spezialität der Stadt, versuchen will, ist im Chez Loury Restaurant Le Mistral gut aufgehoben, das direkt hinter dem alten Hafen liegt. Unbedingt reservieren, hier tafeln auch viele Einheimische. www.loury.com

Schlafen

Erst Stadtpalais, dann elegantes Boutiquehotel: Das C2 ist eine ideale Herberge für Designliebhaber. Außerdem ist es zum pittoresken Cours Julien – der kreativen Bobomeile der Stadt – von hier aus nur ein Katzensprung. Die ehemaligen Gemüsehallen haben Designershops, Künstlerateliers und Antiquitätenhändlern Platz gemacht, jetzt ist der Cours Julien ein Treffpunkt, an dem man es sich auf den Terrassen der Cafés und kleinen Restaurants aus aller Welt gut gehen lassen kann. www.c2-hotel.com

Monsieur und Madame Tassy haben ein ehemaliges Kloster zum luxuriösen und stilvollen B&B Le Couvent umgebaut. Die neun geräumigen Suiten liegen teilweise auf zwei Etagen, manche verfügen sogar über eine gut eingerichtete Küche. Ideal, wenn man länger in der Stadt weilt, sehr zentral im idyllischen Panierviertel gelegen. www.fonderievieille.com

Im B&B L'Empereur scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Wohnung liegt im ersten Stock genau über dem gleichnamigen Laden, der als Institution im ganzen Viertel gilt (siehe auch Shopping-Tipps). W-LAN und TV-Gerät gibt es nicht, dafür stilvolles Retrofeeling, eine ideale Adresse für Nostalgiker.

Das Hotel Maison Montgrand, ein neues Boutiquehotel mit 37 Zimmern, verfügt über einen begrünten Innenhof, einen Konzeptstore mit Designobjekten heimischer Künstler (etwa originelle, bedruckte Tote-Bags und Kaffeehäferln von La Manufacture du Souvenir) und ein kleines Fitnesscenter mit Yoga- und Pilateskursen samt Coach.

Außerdem werden laufend Ausstellungen organisiert und Design-Kreationen heimischer Künstler gezeigt. Im Restaurant können auch Nichthotelgäste die innovative und großzügige Mittelmeerküche von Johanna Pariente genießen. www.hotel-maison-montgrand.com

Etwas weniger gediegen, aber dafür ziemlich cool: Mama Shelter, stylisches Ambiente in pulsierender Atmosphäre nahe dem Cours Julien. www.mamashelter.com

Shoppen

Charlotte Bevilaqua hat in Paris Mode studiert, lebt wieder im Süden und entwirft für ihr Label Cozete stylisch-feminine Kreationen. Know-how hat sie sich auch bei zwei tonangebenden Designern der Stadt, Sessun und American Vintage, geholt. www.cozete.com

Mutter und Tochter führen mit stilsicherem Händchen die Designboutique Honoré, wo tout Marseille fürs Zuhause einkauft. Der Fauteuil „Croisette“ ist Bestseller und Aushängeschild des Labels, das auch Lampen, Korbmöbel, Textilien und Geschenkobjekte bietet. Übrigens: Das Duo zeichnet auch für die Inneneinrichtung der neuen ?picerie L'Idéal verantwortlich. www.honoredeco.com

Im Vent Contraire, einer winzigen Boutique, verkauft Catherine Caussarieu ihre Schmuckkreationen, Möbel von „Bedandphilosophy“ und wunderschöne Bettwäsche aus Baumwolle und Leinen. www.ventcontraire.com

Die Designerin und Innenarchitektin Ginie Bell empfängt im Maison Moutte, im vierten Stock der Cité Radieuse. Ihre Boutique ist wie eine Privatwohnung eingerichtet, es gibt hier ihre eigenen Kreationen, aber auch Fundstücke, deren Designs von Handwerkskunst inspiriert sind.
Beim Flanieren durch das malerische Viertel Panier, wo hin und wieder noch wie früher die Wäsche im Wind flattert, kommt man irgendwann an der Compagnie de Provence vorbei. Die berühmte Seife Marseilles, Duftkerzen, Handcremen und Geschirrspülmittel werden stylisch schön verpackt – Mitbringsel mit Kultstatus. www.compagniedeprovence.com

Was sich immer lohnt: ein Rundgang durch die Boutique Maison L'Empereur, seit Generationen von einer Familie geführt. Hier findet man wunderschöne Bettwäsche, Holzspielzeug, Geschirr, Körbe, Backformen, Bürsten, Lichtschalter, Kerzen . . . eine Institution (mit eigenem Café), die man unter Denkmalschutz stellen sollte. www.empereur.fr

Und spätestens jetzt wird klar: In Marseille sollte man bequemes Schuhwerk tragen. Die Etappe bis zur Rue Sainte 136 kann sich ziehen. Dafür entschädigen dort köstliche, nach Orangenblüten duftende Navettes. Diese Kekse werden seit 200 Jahren in der Bäckerei Four des Navettes gezaubert, das Rezept ist natürlich streng geheim.

Web: www.capcult.org
www.france.fr
www.marseille-tourisme.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2018)

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