Wandern in Norwegen: Über Steine, Moos und Treppen

Nye Skapet, Forsand
Nye Skapet, ForsandThomas Rasmus Skaug/Visitnorway.com
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Schwindelfreiheit braucht man in Norwegens Attraktionen nur, wenn man sie ganz ausreizt. Der Rest ist traumhaftes trittsicheres Terrain.

Manche Orte übererfüllen das Klischee, das macht sie zum gefragten Sujet für Touristiker, die damit werben, und für Touristen, die Social Media damit füttern. Solche Orte sind quasi Selbstläufer, werden zu Publikums- und Instagram-Magneten, allerdings haben sie die Begleiteigenschaft, dass sie anderes, ebenso Sehenswürdiges in ihrer Umgebung überstrahlen. Eines dieser allerhäufigsten Norwegen-Bilder zeigt den Preikestolen in einer Draufsicht: Eine rechteckige Steinplattform, die nach drei Seiten hin jäh abbricht, im Hintergrund glitzert das Meerwasser des Lysefjords im Südwesten Norwegens, unweit von Stavanger. Steile Bergrücken hausen diesen tiefen Meeresarm ein. Man kann nur ahnen, wie hoch diese berühmte Felskanzel ist, denn die Perspektive verkürzt das allzu Spektakuläre: Die Steilwand des norwegischen "Predigtstuhls" stürzt an die 604 Meter senkrecht ins eiskalte Wasser. Urban Legends erzählen von bizarren Unfällen, weil es da oben nichts gibt, also keine Barriere, die die Gefahr, den Leicht- bis Irrsinn im Zaum hält.


Die Ausgesetztheit der Attraktion hindert Heerscharen von Touristen nicht, zum Preikestolen hinaufzusteigen, auf dem Weg nach oben geht es mitunter zu wie bei einem Schulwandertag, und mancher arglose Fernreisende bestreitet ihn mit Kind und Hund und schlechtem Schuhwerk. Alles auf eigene Gefahr: Hier muss jeder selber wissen, ob er mental dazu in der Lage ist, sich knapp an die Kante zu stellen, zumindest bis an den Rand vorzurobben, um bäuchlings in den Abgrund zu blicken, oder sich nach dem nicht unbeschwerlichen Aufstieg doch im Hintergrund halten will. Die Aussicht ist auch so ganz großartig.

Mutprobenstein. Das zweite Schaubild, das in Norwegens Fjordland lockt, steht dem Thrill am Preikestolen um nichts nach: Ein oder zwei Menschen auf einem runden Stein, der in großer Höhe zwischen zwei Felswänden eingezwickt ist. Man hat auch schon Aufnahmen von einem Biker auf dem Kjeragbolten gesehen, eine Yogastellung und vieles andere, was sich auf ein paar Quadratzentimetern veranstalten lässt. Und weil derjenige, der einen großen Schritt auf den berühmten Kjeragbolten hinauswagt, kein Weichei ist, braucht er natürlich keine Seilversicherung. Massenziel ist der Kjerag als höchster Berg (1084 Meter) am Lysefjord nicht so sehr, weil der Anmarsch lang dauert und stellenweise schwierig ist (sechs Stunden plus/minus, man muss sich teilweise an Seilen hochziehen) und die Norweger keine steile Gondelbahn hinaufgebaut haben, obwohl sie das locker könnten (die steilste Seilbahn der Welt, der Loen Skylift, wurde vor ein paar Jahren in Stryn eröffnet).

Eine Alternative für all die Höhenangstgeplagten, Nichtbergsteiger, -kletterer oder -extremsportler ist es, unten im Lysejord auf einem Ausflugsboot oder einer Fähre zu warten, bis sich ein Basejumper von dem verpeilten Kjerag-Schlussstein in die Tiefe stürzt. Ungewöhnlich ist der Berg aber nicht nur wegen seines "Bolten", sondern auch aufgrund einer akustischen Erscheinung: Oben auf dem Kjeragfjell (der Hochebene) ist immer wieder einmal ein Knall beziehungsweise Schuss zu hören und Rauch aus dem Gestein zu sehen. Auf das Phänomen kann man sich bis heute keinen eindeutigen Reim machen, nimmt aber an, dass es Wasser im Berg ist, das seinen Druck ablässt.

Sujet Nummer drei, für das Wanderer ein extremes Norwegen-Selfie riskieren, ist die Trolltunga, die tatsächlich so aussieht, als würde der Berg dem Rest der Welt die Zunge entgegenstrecken, in einer Höhe von 700 Metern über dem Stausee Ringedalsvatnet beim Sorfjord. Es ist eine Mutprobe, sich hier nach einer langen und anstrengenden Wanderung auf den schmalen Zungenspitz zu setzen und mit den Beinen über der Tiefe zu baumeln. Bedauerlicherweise kam es hier vor einigen Jahren zu einem tragischen Unfall, als eine Studentin einem anderen Wanderer ausweichen wollte. Freilich gibt es Warnungen im Internet und in Wanderführern zu lesen, doch manchmal rettet auch das richtige Verhalten am Berg nicht vor Unglück. Wetterstürze und rutschiges Gestein tun das Ihre dazu. Klar ist: Im Winter ist der Besuch dieser Attraktionen gröbst fahrlässig.

Treppenrekord. Landschaftlich und abenteuersportlich steht Norwegen (oft ganz ohne Zutun, das erledigen schon die Poster) für Superlative. Auch in anderer Hinsicht ist das gelobte Outdoorland ein Rekordhalter, was nicht selten mit seiner technischen Infrastruktur zu tun hat. Unweit des Kjerag liegt Florli am Lysefjord, an dem die weltweit längste hölzerne Treppe gebaut wurde, nicht aus touristischen Motiven, sondern zwecks Wartung und Überwachung der dicken Wasserrohre, die vom Berg ins Tal führen. 4444 Stufen steigt der Wanderer steil bergauf, parallel zu einem Schienenstrang, es geht ordentlich an die Substanz. Allein schon der Ort ist exponiert: Florli kann man nur zu Fuß über die Berge, mittels Fähre oder ganz sportlich mit dem Kanu oder Kajak erreichen. Unten befindet sich ein kleines Museum in der Turbinenhalle von 1917, ein Jugendstilgebäude. Dieses war lang in Betrieb, bis 1999 ein neues Kraftwerk gleich in den Berg gebaut wurde. Vor Ort gibt's ein kleines Cafe sowie Infrastruktur für Outdoorurlauber, die es gewöhnt sind, über tiefe Fjorde zu paddeln, im Zelt oder ganz im Freien zu schlafen und in Funktionskleidung zu urlauben.

Hüttenzeitgeist. Würde man hier noch ein Stück weiter mit der Fähre in den tiefen Fjord hineinfahren, käme man in Lysebotn zu einer wild in Serpentinen gelegten Straße, die (nur sommers) hinauf ins Hochland führt, zu Fjälls, den kargen, abgeschliffenen Höhenrücken, die Norwegen abseits der Küste charakterisieren. In dieser unendlichen Abfolge von Hochflächen, kleinen Seen und tun drartigem Bewuchs lässt sich ein Wanderziel immer weiter hinausschieben, weil es immer einen nächsten See, eine nächste Erhebung gibt. Gegen Nordosten führt das Gelände in Richtung der Hardangervidda, eine 8000 Quadratkilometer große Hochebene mit schütterem Bewuchs, abgeschliffenen Rücken, Wasserstellen und einem Netz an Hütten, die allerdings keine im alpinen Sinne bewirtschafteten sind, sondern praktische Behausungen zur Selbstversorgung.

Die neuerdings auch so cool aussehen können wie die neuen Skapet-Hütten in Soddatjorn in Forsand (Seite 22). Sie wurden von Koko Architects aus Estland entworfen und sind unter anderem Ziel- und Ausgangspunkt für die Tour auf den Kjerag wie über die Florli-Treppen. In solche Hütten rettet man sich, wenn das Wetter rau ist, es (recht oft) regnet, verkocht seinen Proviant, rollt den Schlafsack aus und hängt die Socken zum Trocknen auf. Für den Österreicher abenteuerlich. Offensichtlich sind Norweger so puristisch, naturverbunden und wasserabweisend auf die Welt gekommen, dass Schlechtwetter und gastronomisches Niemandsland keine Hindernisse für Wanderungen sind, sondern bloß der Mangel an Ausrüstung.

Ebenfalls im Umkreis des spektakulären Lysefjords liegen Täler von romantischer Wildheit, man muss nur (kommend von Stavanger mit der Fähre) bei Oanes nach rechts Richtung Forsand und weiter ins Ovre Espedal abzweigen. Eine der schönsten Wanderungen führt hier immer weiter landeinwärts, an kleinen Seen vorbei, den Bach entlang, über riesige Steinblöcke, die die Berge abgeworfen haben. Wobei dieses sich flach dahinwindende Tal für einige Wanderer erst der Anfang einer langen Trekkingtour ein paar Stufen höher ist. Das Gelände: ein Norwegen-Schaubild. Gletscher frästen U-förmige Täler aus, sodass die Hänge steil, die ausgesparten Höhen dazwischen aber flach sind, den Talboden füllen tiefe Wasser aus, an den Rändern ein Saum aus Birken und etwas Nadelgehölz. Alpine Blumen springen zwischen den Steinen hervor, ganze Waldstücke sind mit fantastisch-elastischen Moosteppichen ausgelegt. Saisonabhängig und die ist gar nicht so kurz wird man Heidelbeeren, Preiselbeeren und diverse Pilze finden. Geht's ums Selbstversorgen, muss auch die Angelrute mit.

Wasserfallausreißer. Am Ziel (aber was ist schon ein Ziel in einer Landschaft, deren Natur über viele Quadratkilometer so unbebaut, so unerschlossen ist?) findet sich eine größere Lichtung zum Zelten und In-der-Hängematte-Dösen, mit Grillstellen und Baumstämmen zum Drumherumsitzen. Allerdings gilt es, die aktuelle Lage zu beachten, in diesem außergewöhnlich heißen Sommer und angesichts der Waldbrände an vielen Stellen war offenes Feuer in Skandinavien verboten. Man könnte, wenn möglich, auch einen Einweggriller (Alutasse mit integrierter Grillkohle) im Supermarkt erstehen, wie das viele Norweger tun. Doch es mutet ein wenig paradox an, dass in einem Land, in dem das "Plogging" gehypt wird, also die Kombination von Laufen beziehungsweise Gehen und Müllaufsammeln, derart viel in Plastik abgepackte Ware im Regal zu finden ist. Und leider muss man auch viele "Polser", Würstel, testen, bis man sie in einer Fleischqualität findet, die einem Frankfurter made in Austria das Wasser reichen kann. Dass die Dose Bier einen Faktor X kostet sei s drum: Norwegisches Quellwasser schmeckt beim Wandern eigentlich besser. Würde man hier einfach weitermarschieren, auch hier würde man letztlich zu den neuen Architekten-Sheltern "Nye Skapet" gelangen.

Bleibt nach einer Runde Espedal-Rein, Espedal-Raus noch Zeit, könnte man auch dem Manafossen, dem größten Wasserfall von Rogaland und neuntmächtigsten Norwegens, einen Besuch abstatten. Auch hier lässt sich darüber staunen, dass sich an touristisch hochbelichteten Highlights Ausflügler einfinden, die man genauso gut am Ausgangspunkt in Stavanger hätte antreffen können: mit Freizeitschuhen, Umhängetäschchen, um die Waden flatternden Röcken. Aber vielleicht macht die Herkunft aus dem Flachland immun für die Wahrnehmung von eventuellen Gefahren: Gern dreht man dem Wasserfall für ein Selfie den Rücken zu, hier geht s schließlich nur 92 Meter im freien Fall hinunter. Und wenn man sich ein bisschen ärgert, bloß mit Sandalen den Aufstieg gewagt zu haben: Nach zig ketten- und seilversicherten Stufen und Steigen ist man eh gleich oben. Bleibt fünf Minuten fürs Bild auf Instagram, Facebook, Snapchat, WhatsApp, whatever. Der Weiterwanderer hingegen schenkt der Gischt des mächtigen Wasserfalls noch ein paar Minuten mehr Betrachtung. Er überlegt, wo es denn weitergeht, wie weit er heute kommt, ob das Wetter hält und ob man schon wieder den Campingkocher und die Feuerstelle anheizen darf.

Infos

Anreise: Nach Stavanger von Wien via Kopenhagen oder Oslo mit SAS oder Austrian und Norwegian. Alternativ über Amsterdam mit KLM. Vor Ort checkt man sich am besten einen geländegängigen Mietwagen oder gleich einen Camper.

Unterkunft: Die Hotellerie in Norwegen ist nicht so stark ausgebaut. Wie die meisten Skandinavier mietet man sich eine Hütte (meistens sehr komfortabel ausgestattet, manche echt stylish eingerichtet). Auch Campen lohnt sich, einerseits auf ausgewiesenen Plätzen (wo es ebenfalls kleine Hütten zu mieten gibt), umgekehrt erlaubt das Jedermannsrecht ein Übernachten (unter bestimmter Rücksichtnahme) in der freien Natur.

Viele Infos:visitnorway.com

("Die Presse-Schaufenster", Print-Ausgabe, 31.08.2018)

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