Gourmet-Reise: Bosporus per Bauch

(c) Anna Burghardt
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Hühnerfleisch im Dessert, grüne Paradeiser zum Schlürfen, knuspriger Lammdarm im Sandwich: Mit dem Koch Maksut Aşkar unterwegs in Istanbul.

Penne all’Arrabiata, Mozzarella mit Paradeisern und Basilikum, Steaks: „Lange Zeit waren gehobene Restaurants in Istanbul auf internationale Klassiker wie diese fixiert“, sagt der Koch Maksut Aşkar vom Fine-Dining-Restaurant Neolokal, einer der derzeit umtriebigsten Köche der Türkei. Die Zutaten für solche Standardgerichte spiegeln keineswegs die Märkte der Stadt wider. „Ursprüngliche Gerichte, mit Innereien, Körnern, Fermentiertem, hatten und haben vielfach keinen Stellenwert“, berichtet Aşkar. Er will das ändern, so wie auch einige weitere Köche wie Yılmaz Öztürk vom Mürver oder Civan Er vom Yeni Lokanta. Sie wollen zeigen, welche Schätze in den geschriebenen und ungeschriebenen kulinarischen Archiven der Türkei zu finden sind, diese aber dezidiert in die Zukunft befördern. Die neue anatolische Küche, wie Maksut Aşkar sie meint, sieht etwa Gerichte wie eine verfeinerte Version von Kokoreç vor: Dieses typische Straßenessen wird üblicherweise aus Dünndärmen vom Lamm gemacht, die mit Lammschwanzfett zu dicken, an Umspannwerke erinnernde Rollen gewickelt und knusprig gegrillt werden. Der Neolokal-Chef nimmt Lammherz statt Därmen und würzt mit Thymian, Kreuzkümmel und dem herb-säuerlichen Sumach. Auch Hummus, Erişte, streichholzförmige Nudeln, und İçli Köfte, gefüllte Bulgur-Rugbys, serviert Maksut Aşkar in seinem Restaurant in einer prachtvollen alten Bank nahe der Galatabrücke in neuer Form.

Dampfende Lammschädel. Gemeinsam mit diesem Koch hat sich das „Schaufenster“ zu jenen Winkeln Istanbuls aufgemacht, in denen man Lamminnereien, junge Kichererbsen und fermentierte Wassermelonenschale kaufen kann, wo man einen Trunk aus vergorener Hirse schlürft, sich über ein Dessert aus zerzupftem Hühnerfleisch wagt oder Holzmodeln zum Backen von Maamoul findet, einem dekorativen gefüllten Gebäck libanesischen Ursprungs.

Allzu zartbesaitet darf man auf einer solchen Stadttour nicht sein. Es kann leicht vorkommen, dass man durch halb beschlagene Fensterscheiben von dampfenden Schafschädeln angebleckt wird oder über eine Kiste mit artig geschnürten Gedärmbündeln – Stichwort Kokoreç – stolpert. Auch das Fett, das für diese Spezialität verwendet wird, ist von beeindruckendem Ursprung, wie man etwa in den Fleischhauereien des Women’s Bazaar am alten Aquädukt im Stadtteil Fatih erfährt: Die Kehrseite der abgezogenen Fettschwanzschafe, die da hängen, ist beachtlich. Der Women’s Bazaar, auf dem Touristen nicht so alltäglich sind wie etwa auf dem weitaus bekannteren Markt von Kadıköy, hat seine Wurzeln in den 1940er-Jahren: Frauen verkauften hier selbst Angebautes und Eingelegtes oder, so Maksut Aşkar, auch brauchbare Lebensmittelabfälle, die sie anderswo zusammengeklaubt hatten. Ein Rundgang über den Women’s Bazaar (Kadınlar Pazarı auf Türkisch) liefert Einblicke in ein traditionelleres Istanbul. Entlang des steineren Aquädukts sitzen ältere Männer auf niedrigen, geflochtenen, bunten Hockern und trinken Tee. Schwarz verschleierte Frauen, viele von ihnen aus Syrien stammend, schleppen unzählige schwere Plastiksackerl in jeder Hand. In den Geschäften: Honigwaben in Bottichen, grüne Seife in großen Blöcken, weiße Maulbeeren, in Ziegenleder gereifter Schafkäse und Käse mit gehacktem wilden Blattgrün als Intarsien, harte Brotkringel, die man traditionell in Suppe aufweicht . . . Und jede Menge Innereien.

Hühnerfleisch im Dessert. Unweit des Women’s Bazaar ist auch das für Maksut Aşkar beste Pide-Lokal der Stadt zu finden: Ibrahim Usta hat es mit seinen schiffchenförmigen Fladenbroten, etwa mit Kışlık Kavurma gefüllt, einer Art mit eigenem Fett gemachten Sulz, zu gewisser Berühmtheit gebracht. Das bezeugen diverse ausgeschnittene Zeitungsberichte an der Wand. „Seinen Reispudding nicht versäumen!“, merkt Maksut Aşkar an. Wiederum in der Nähe: eine Filiale der gutbürgerlichen Konditorei Saray Muhallebicisi („seit 1935“), was man nach heutigen Bobo-Maßstäben wohl mit „Milchpuddingeria“ übersetzen müsste. Hier bekommt man nicht nur typisch überkitschige Hochzeitstorten oder Hangover-tauglichen Frühstücksbrei aus Maismehl mit geschmolzenem Käse, sondern, besonders spannend, ein altes osmanisches Dessert namens Tavuk göğsü, was schlicht Hühnerbrust bedeutet: Hühnerbrust wird über Nacht eingeweicht und gekocht; das Wasser muss öfters gewechselt werden, was dem Huhn den Fleischgeschmack entzieht. Mit Milch, Stärke und Zucker werden die mittlerweile hauchfeinen Hühnerfleischfasern schlussendlich zum süßen Pudding, der in Rollenform serviert wird.

„Gut gegen Cholera.“ Erlebnisse wie diese lassen kulinarisch Interessierte doch einige Meter zurücklegen. Pflicht für solche Istanbul-Besucher, vor allem wenn sie gerade in der Nähe der großen Süleymaniye-Moschee aus dem 16.  Jahrhundert sind: das Vefa Bozacısı, das seit 1876 ein viskoses Getränk namens Boza verkauft. Ausschließlich. Boza, ein unerwartet köstlicher, milchsauer vergorener Hirsetrunk, sei besonders gut gegen Cholera, informiert ein Schild. Die marmorne Schwelle des Vefa Bozacısı wurde von abertausenden Kundenfüßen über die Jahrzehnte niedergeschliffen, ein dreiteiliger Spiegel in einem aufwendig verzierten Holzrahmen dupliziert die weiß-blauen Fliesen hinter der Budel. Und unter einem Glassturz präsentiert man stolz ein kleines Glas in einem filigranen Metallhalter, aus dem Atatürk hier ein Jahr vor seinem Tod, 1937, getrunken haben soll. Zur Boza, die becher- oder auch flaschenweise ausgeschenkt wird, besorgt man sich am besten im winzigen Geschäft gegenüber getrocknete Kichererbsen und geröstetes Kichererbsenmehl zum Darüberstreuen, erklärt Maksut Aşkar. „Es ist Tradition, dass man das hier nicht auch gleich verkauft, sondern auch einen anderen Geschäftsmann davon leben lässt.“

Lake aus dem Plastikbecher. Auf einem kulinarischen Streifzug durch Istanbul gelten der Große Basar sowie die Marktstraßen nahe der Fährstation in Kadıköy auf der asiatischen Seite des Bosporus für viele als Pflichtprogramm. Wer es kitschig mag, besucht die in jedem Reiseführer erwähnten Lokum-Geschäfte, wer lieber in den Alltagsgeschmack vieler Istanbuler eintauchen möchte, muss Fermentiertes kosten. Stückchen von grünen Paradeisern in Lake etwa, wie überall aus ziemlich instabilen, dünnwandigen Plastikbechern gefischt. „Die Lake zu trinken ist fast das Wichtigste“, ermahnt Maksut Aşkar. Für ihn ist diese salzig-saure, dank Milchsäurebakterien hochgradig gesunde Lake gewissermaßen das Pendant zu den allgegenwärtigen Smoothies anderer Großstädte. „Viele junge Leute in Istanbul trinken das. Es gibt ja weltweit gerade einen Fermentationshype. Wir haben das schon lange. Wie Korea sein Kimchi.“ Ein klassischer Straßensnack ist für ihn „ein Fischsandwich bei der Galatabrücke und ein Becher Fermentiertes“.

Güllaç auf Netflix. Kein Geheimtipp mehr, aber – spätestens seit Verlautbarung der fünften Staffel der Netflix-Serie „Chef’s Table“ – wirklich Pflicht ist ein Besuch im Çiya Sofrası in Kadıköy: Chef Musa Dağdeviren gilt seit vielen Jahren gewissermaßen als kulinarischer Ausgrabungsleiter einer Region, die das einstige Mesopotamien ebenso umfasst wie das Osmanische Reich, den Balkan oder den Kaukasus. Demnächst wird er auf Netflix einem noch breiteren Publikum bekannt werden. Was man im Çiya Sofrası trinkt und isst: Einen grünen Shot aus Falschem Rhabarber. Oregano-Tee. Güllaç, eine Art Lasagne aus Maisstärketeigblättern, die in süßer, mit Rosenwasser aromatisierter Milch gekocht und mit Walnüssen gefüllt werden. Pistazien-Kebab. Oder gefüllte getrocknete Melanzani, wie sie, auf Schnüre gefädelt, ein paar Stände weiter verkauft werden.

Infos

Ausgewählte Empfehlungen des Kochs Maksut Aşkar:

Die besten Pide bäckt Ibrahim Usta im Stadtteil Fatih, „den Reispudding nicht versäumen!“ fatihkaradenizpidecisi.com

Tavuk Göğsü, das Hühnerfleischdessert, gibt es in der Konditorei Saray. saraymuhallebicisi.com Boza, fermentierten Bulgurtrunk, serviert das Vefa Bozacisi, auch wegen des originalen Interieurs besuchenswert. vefa.com.tr

Das Çiya Sofrası (sein Chef ist demnächst auf Netflix zu sehen) in Kadıköy serviert fast vergessene anatolische Spezialitäten. ciya.com

Das Mürver und das Yeni Lokanta empfiehlt Aşkar für kreativere Küche. Er selbst kocht im Neolokal in einer prachtvollen alten Bank. neolokal.com

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