Senden/Empfangen bis zum kognitiven Kollaps

(c) REUTERS (EDUARDO MUNOZ)
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Brummen, Piepen, Klingeln – diese Töne beherrschen heute den Alltag junger Menschen von frühmorgens bis spätabends. Von den Tücken der Sucht nach permanenter Kommunikation.

Abhängigkeit? Natürlich sind wir abhängig voneinander! Wir sind süchtig nacheinander! Wir können nicht mehr ohne einander! Aber das ist doch eine rein freiwillig gewählte Situation.

Denn nein, unser Spiel heißt nicht Facebook. Es heißt auch nicht Twitter. Oder Google+. Es heißt LG – liebe Grüße. Und keine böse Macht, kein fieser Konzern, keine bösen Silicon-Valley-Diktatoren zwingen uns, es zu spielen.

Als wir damit anfingen, sind wir keiner perfiden Verschwörung auf den Leim gegangen, die jemand von langer Hand geplant hat. Es war unser freier Wille. Wir selbst haben uns da hineinbugsiert. LG – das ist ja auch eigentlich gar nichts Neues. Es ist eigentlich nichts als das alte Spiel. Immer noch tut man dabei nichts anderes, als sich freudig von einer Lebenslinie zur anderen etwas hinüberzurufen.

Es ist nichts anderes als dieses alte Pingpong mit der Euphorie, auf der Welt zu sein und dieses Leben miteinander zu teilen. Nur, dass das Spiel jetzt eben ein bisschen schneller geworden ist. Und größer. Man spielt es nun nicht mehr nur zu zweit, dritt oder viert, mit den Menschen, die um einen Tisch passen.

Heute spielen wir es mit endlos vielen Teilnehmern. Mit all denen eben, mit denen wir durch unsere tausend Kanäle, Accounts und Nummern verbunden sind. Mit all jenen eben, mit denen wir connected sind. Und mit all denen, die ständig neu dazukommen.


Ein paar liebe Grüße reichen nicht. Denn für unsere Tamagotchis ist das Spielen mittlerweile zur Sucht geworden. Ein paar liebe Grüße reichen ihnen nicht mehr. Sie kommunizieren – so scheint es uns zumindest mittlerweile manchmal – fast nur noch zum Selbstzweck. Sie brummen und piepen und klingeln, manchmal gar nicht, weil der Inhalt so wichtig wäre, sondern einfach nur, damit es ein Geräusch, ein Signal gibt. Und damit sie es sind, die am allermeisten brummen, piepen und klingeln. Schneller als wir gucken können, schaufeln unsere kleinen Ich-Geräte deshalb immer noch einen Kanal, immer noch mehr und noch engere Querverbindungen zu anderen Lebenslinien, zu neuen Menschen und deren Geräten.

Manche kennen sie schon lange, andere lernen sie gerade erst kennen. Beim Job, in der Schule, im Seminar, beim Sport, in der Bahn, auf einer Party, über Freunde, Bekannte, Verwandte, durch gemeinsame Interessen – überall gibt es einfach so viele tolle neue Menschen dort draußen, die ihre Wege kreuzen.

„Mehr!“ und „Schneller!“ piepsen sie dann, unsere hyperaktiven, hyperkommunikativen kleinen Smartphone-Wesen. Übermütig, noch bevor wir Großen uns überhaupt richtig kennenlernen konnten, laden sie sich dann massenweise gegenseitig zu einer neueren, noch größeren Partie ein. Und wir lassen sie, die lieben Kleinen. Weil wir diese ganzen Menschen natürlich auch gerne mögen und interessant finden. Und auch wir deshalb mit ihnen verbunden sein wollen.

Vor allem aber, weil unsere kleinen Tamagotchis dann, wenn sie so viel spielen können wie möglich, endlich glücklich sind. Und wenn sie es sind, sind wir es auch. Denn nur wenn wir spüren, wie sie fröhlich an unseren Körpern vibrieren und wir mit ihnen, geht es auch uns so richtig gut.


Chronische Überforderung. Ja, man kann es auch übertreiben. Wie aus jedem zu weit getriebenen Spiel wird auch aus LG ab einem gewissen Punkt plötzlich Ernst. Wenn keiner Stopp sagt, überdrehen unsere kleinen Tamagotchi-Ichs nämlich einfach. Und wir mit ihnen. Was für sie dann höchstens ein kleines ärgerliches Gameover, eine kurze Spielpause auf der Wartebank des leeren Akkus oder der zu heiß gelaufenen Festplatte ist und sich durch einen Neustart oder einen kräftigen Schluck Strom ganz schnell wieder beheben lässt, ist für uns schon lange zu einer chronischen Überforderung geworden.

Im Gegensatz zu unseren Geräten macht uns ihre Spielsucht auf Dauer krank. Denn allein die alte Nervosität – wird etwas für mich im Briefkasten sein? – begleitet uns jetzt auf Schritt und Tritt. Obwohl wir sie meistens nicht direkt spüren, unterschwellig ist sie die ganze Zeit da. Und sie ist ins Unendliche gewachsen.

Denn schließlich gibt es nun nicht mehr einen, sondern multiple, mobile Briefkästen, auf denen unser Name steht. Es existiert nicht mehr nur einer, sondern gleich hunderte potenzielle Briefträger, die allesamt unsere Adresse kennen. Die Post kommt nicht mehr nur einmal am Tag, zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort an, sondern durchgängig, jederzeit und immer. Denn das Senden und Empfangen ist nichts Punktuelles mehr, sondern linear, zu einem Zustand geworden. Kein Wochenende, kein Feiertag.

Die Krakenarme unserer Erreichbarkeit reichen nun überall hin. In jedem Winkel unseres Alltags, in jeder Sekunde und an jedem Ort erwischen sie uns. Ständig müssen und wollen wir bereit sein, weil unsere Briefkästen jederzeit etwas Neues erreicht haben könnte. Und wenn wir auch nur annähernd auf dem Laufenden bleiben wollen, müssen wir ständig zu ihnen stürzen, um nachzusehen, was passiert ist. Jede Minute aufs Neue.

Und auch, wenn unser Schwindel, den wir spüren, wenn dieses ganze Gerenne uns zu viel wird, keinen Zweifel lässt, dass wir mit LG langsam etwas an unsere Grenzen stoßen: Unsere Tamagotchis finden das Spiel immer noch lustig. Sie wollen immer weiter. Nur noch einen Anruf, drängen sie piepend, nur noch eine Nachricht, noch ein einziges Foto, nur noch ein einziger Ausflug auf die große Spielwiese zu den anderen, nur, um noch ein einziges Mal ganz schnell zu schauen, was passiert ist.

Überredet haben sie uns noch jedes Mal. Und sie werden es auch in Zukunft schaffen. Wir werden spielen, bis wir umkippen. Wir werden senden und empfangen bis zum kognitiven Kollaps. Wir werden uns weiterdrehen, immer schneller, bis unsere Welt an lieben Grüßen kollabiert. Und selbst dann, wenn die Erschöpfung uns übermannt, werden wir wieder aufstehen. Weil ja nie irgendwer Stopp sagt.


Unser großes Spiel. LG – liebe Grüße. So heißt also unser großes Spiel. Unsere große Sucht. Unsere Abhängigkeit. Unser Lebensgefühl. Wir sind seine Pioniere. Vor uns gab es diese Welt nicht. Es gab nur das alte, bedächtigere Winken von einem Leben zum nächsten, es gab ein paar Geräte, mit denen man es verschnellern oder vervielfältigen konnte. Aber es existierten immer Grenzen dabei, Beschränkungen in Zeit, Raum und Verstand.

Es gab damals Markierungen um das Spielfeld herum, die einem sagten: „Bis hierhin und nicht weiter.“ Und Bestimmungen, ungeschriebene vielleicht, aber trotzdem wirksame, die ein Limit vorgaben, wie schnell man sich drehen durfte und wie viele Spieler nebeneinander so eine Partie überhaupt ertrug. Heute ist das alles vorbei. Denn dieses Mal spielen alle mit. Sogar die, die gar nicht wollen, stehen jetzt irgendwie auch mittendrin.

Weil selbst die, die das Spiel gar nicht verstehen, von der übergroßen Mannschaft umzingelt sind. Denn wir Pioniere mit unseren spielsüchtigen Tamagotchi-Maskottchen haben längst die gesamte Umwelt mit unserer Aufgeregtheit angesteckt. Wir, die wir süchtig nach LG sind, infizieren damit die Atmosphäre. Wie starke Raucher blasen wir unsere Hyperkommunikationswolken überall in die Umgebung.

Und selbst, wenn man uns auf Bahnsteigen, an Flughäfen und vor Bürogebäuden auf kleine Inselchen verbannte – den Qualm würden trotzdem alle einatmen. Denn LG ist nun überall. Unser Spiel verändert die Luft. Und zwar bis in den letzten Winkel der Gesellschaft hinein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2012)

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