Déjà-vu

Der Staat als Objekt der Ausbeutung

Die zwei grundverschiedenen Haltungen zum Staat: Bürgergesinnung gegen die Ich-AG. Warum die Freiheitliche Partei eine Schlüsselstelle für die künftige österreichische Regierung hat.

Man muss Christian Kern dankbar dafür sein, dass er mit seinem Wahlkampfmotto klargemacht hat, worum es bei dieser Wahl geht. Zur Auswahl stehen zwei grundverschiedene Vorstellungen vom Staat und dem Verhältnis der Bürger zu ihm. „Holt euch, was euch zusteht“, ruft uns die SPÖ zu. Beuten wir den Staat aus, er gehört ohnehin nicht uns. Das ist die eigentliche Botschaft in Kerns Parole. Die SPÖ will den Staat beherrschen, und wenn sie das nicht kann, ist er der Feind.

„Marx für die Mur-Mürzfurche“ nennt das Hubert Patterer in der „Kleinen Zeitung“ sehr einprägsam. Das ist allerdings ungerecht gegenüber den Arbeitern dieser für die Steiermark so prägenden Industrietäler. Die können nichts dafür, dass ihre redliche Arbeit abgewertet wird zugunsten derer, die sich etwas „holen“ wollen und dazu von der „Partei“ noch aufgefordert werden. Das Wort ist eine fatale Ermutigung zu dem, was man von manchem Pensionisten hören kann, der sich dabei noch clever vorkommt: „Ich hol' mir mehr, als ich eingezahlt habe.“

Kern suggeriert, das Geld sei ohnehin da, man müsse es nur jemandem wegnehmen. Er appelliert an die, die meinen, bei der allgemeinen Umverteilung zu kurz zu kommen. „Einen Refrain auf die Ich-AG“ nennt es Patterer. Jetzt stellt sich auch heraus, dass Kern nie der Reformer gewesen ist, als der er sich bei seinem Amtsantritt gegeben hat, und für den ihn manche gern gehalten haben, sondern ein Machtpolitiker der bekannten Sorte.

Die Grünen halten sich für die Vertreter des Weltgeistes auf Erden und meinen sich verantwortlich für die Verwirklichung des einzig Guten und Richtigen (nicht des Schönen leider, was man an ihrer Tätigkeit in Wien sieht). Daher kommt ihre Neigung zur Weltverbesserung und zu Umerziehungsprogrammen – von der Lebensmittelampel und der Genderideologie im EU-Parlament über unfreiwillige Fasttage in Deutschland bis zur erbarmungslosen Beglückung der Menschheit durch Fußgängerzonen und Radwege in Österreich.

Sie pflegen einen „hegemonialen“ Politikstil, wie es der Chefredakteur der „Zeit“, Giovanni di Lorenzo, ausdrückt. Das äußert sich etwa darin, dass sie darüber mitentscheiden wollen, welche Politiker die anderen Parteien haben dürfen und welche nicht. Im Gegensatz zu den anderen Parteien müssen die Grünen auch kaum Rücksicht auf ihre Klientel nehmen, die ihre eigenen Interessen meist ohnehin garantiert weiß und eher ein Lebensgefühl wählt als konkrete politische Programme und Versprechen.

Demgegenüber steht ein anderes Staatsverständnis, eines, in dem der Staat niemandem gehört und von niemandem bekämpft oder auch ausgebeutet wird, für den wir aber alle gemeinsam die Verantwortung tragen. Es ist das, was John F. Kennedy mit dem unvergesslichen Wort sagte: „Frag' nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern frag' , was du für den Staat tun kannst.“ Man könnte das auch Bürgergesinnung nennen. Der Bürger stellt Ansprüche an sich und sein Leben und nicht an den Staat (wieder Patterer).

Der Maßstab für den umverteilenden Sozialstaat, den es auch geben muss, ist dann nicht, möglichst viel für sich herauszuschlagen, sondern sind Leistung und Fairness. Er kann überdies nur funktionieren und finanziert werden, wenn es nationale Grenzen gibt, die den Rahmen für die Ansprüche bilden. Grenzen sind nicht gegen die Menschenrechte, wie ein prominenter Vertreter einer Hilfsorganisation während der Migrationswelle von 2015 meinte, sondern ermöglichen sie erst. Solidarität kann es definitionsgemäß nur innerhalb einer begrenzten Gemeinschaft geben.

Für die beiden Haltungen zum Staat stehen SPÖ auf der einen und nach allem, was man bisher von ihm gesehen und gehört hat, Sebastian Kurz auf der anderen Seite. Freilich gibt es auch in seiner Partei Anhänger des ersten Typus von Haltung zum Staat, die aber momentan jedenfalls weitgehend marginalisiert sind.

Interessant und keineswegs klar zu beantworten ist aber die Frage, wo die FPÖ einzuordnen ist. Die Fremdheit gegenüber diesem Staat gehört zur geistigen Erbschaft aus ihrer „nationalen“, sprich deutschnationalen Geschichte. Es war erst der innerhalb und außerhalb seiner Partei nun verfemte Jörg Haider, der entscheidend zur Versöhnung der FPÖ mit Österreich beigetragen hat, indem er das „Nationale“ umgedeutet hat in Österreich-national. Mit Heimat ist nicht mehr die deutsche Sprach-und Kulturgemeinschaft gemeint, sondern eben Österreich. Heinz-Christian Straches „soziale Heimatpartei“ ist die Verkörperung dieser neuen Orientierung der FPÖ.

Wohin sich die FPÖ letztlich orientiert, wird davon abhängen, mit wem sie regiert. Sie hat sich zuletzt als ideologisch recht flexibel erwiesen. Strache kann von Glück sagen, dass seine Partei nun in den Umfragen wieder an dritter Stelle rangiert. Er wird nicht in die Lage kommen, den Kanzleranspruch für sich zu stellen, den ihm weder SPÖ noch ÖVP hätten erfüllen können. Stattdessen wird er es sein, der darüber entscheidet, wer Kanzler wird. Er kann sich aussuchen, mit welcher der beiden anderen größeren Parteien er als Zweiter regieren will.

Wie nicht anders zu erwarten war, hat sich die SPÖ den Weg zu einer Koalition auch mit der FPÖ geöffnet. Das entspricht vollkommen einer strategischen Logik und ist ein normaler Reflex. Gespräche und Kontakte zwischen den beiden Parteien über eine künftige Koalition gibt es längst. Nur die Grünen leisten sich den Luxus, in einer Art moralischer Großmannssucht die FPÖ als Regierungspartner prinzipiell auszuschließen.

Nur ganz linke Sozialdemokraten, die es noch vereinzelt gibt, halten eine rot-blaue Koalition für politisch oder moralisch anstößig. Mehr als den Auszug einiger Unentwegter und halblaute Proteste der Sozialistischen Jugend brauchte Kern nicht zu befürchten. Tatsächlich hat die SPÖ nie so große Berührungsängste gegenüber den Freiheitlichen gehabt, wie das manche Ideologen gern hätten und wie das in der Öffentlichkeit manchmal erscheint.

„Nazi-Ofner raus“

Als die SPÖ 1983 die absolute Mehrheit verloren hatte, fand sie schnell den Weg zur FPÖ. Der neue Koalitionspartner wurde jetzt als „liberale“ Partei ausgegeben. Die Partei war freilich immer noch dieselbe alte FPÖ mit denselben Deutschnationalen und Ex-Nazis in den Spitzenrängen. Als Harald Ofner sein Amt als Justizminister antrat, begrüßten ihn Jungsozialisten mit dem Ruf: „Nazi-Ofner raus.“ Zur strategischen Logik einer Annäherung kommt eine Affinität zwischen der SPÖ und der FPÖ mit historischen Wurzeln.

Vor Sanktionen der EU müsste sich die SPÖ im Falle einer Koalition mit der Strache-FPÖ nicht fürchten. Es würde sich auch niemand in Österreich finden, der ins Ausland fährt, um an Staaten und Regierungen zu appellieren, in Österreich die Beteiligung der „rechtsradikalen und ausländerfeindlichen“ FPÖ zu verhindern. So ausländerfeindlich wie die FPÖ ist heute bald irgendwo in Europa eine rechte oder linke Regierung. Auch die Gefahr, dass der Bundespräsident befreundete Staatsoberhäupter anruft, um mit ihnen über seine Besorgnis angesichts der Absichten der SPÖ zu sprechen, kann man getrost ausschließen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2017)

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