Déjà vu

Trauma FPÖ: Die SPÖ zwischen allen Sesseln

Koalitionsszenarios. Kanzler Kern berichtete, dass ihn EU-Regierungskollegen reihum auf die FPÖ angesprochen hätten: Tat er das aus Eitelkeit? Oder rechnet er ohnehin nicht mehr damit, bei der nächsten Regierungsbildung mit dabei zu sein?

Es ist schwer zu verstehen, was Christian Kern dazu bewogen hat, sich am Rande des EU-Gipfels in Tallinn (Reval) vor Journalisten damit zu brüsten, dass er reihum auf die FPÖ angesprochen wurde. Ist es Eitelkeit, im Mittelpunkt des Interesses seiner Kollegen zu stehen? Oder hat er schon aufgegeben und rechnet ohnehin nicht mehr damit, bei der Regierungsbildung nach dem 15. Oktober dabei zu sein? Sonst hätte er sich über einen potenziellen Koalitionspartner zumindest bedeckt gehalten und nicht ins Horn von Junckers und Co. gestoßen.

Könnte man sich etwa ein skandinavisches Land vorstellen, dessen Regierungschef im Ausland über die Regierungsfähigkeit einer anderen Partei in seinem Land räsoniert, mit der er möglicherweise bald am Verhandlungstisch sitzen wird? FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl hat recht, wenn er meint, Kern bestelle „bereits jetzt EU-Sanktionen“ für den Fall, dass die FPÖ an einer Regierung beteiligt sein würde.

Heinz Fischers Abgesang

Da fällt einem Bundespräsident Thomas Klestil ein, der sich nach der Wahl 1999 geschmeichelt gefühlt hatte, vom damaligen französischen Präsidenten, Jacques Chirac, angerufen worden zu sein, dem er eilfertig versprach, alles zu tun, um eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zu verhindern. Bekanntlich gelang das nicht, und Chirac war dann der Hauptbetreiber der Sanktionen und damit auch gegen einen Regierungschef in Wien aus seiner eigenen konservativen „Parteienfamilie“.

Oder versteht jemand Heinz Fischer, der in der „Kleinen Zeitung“ einen umfangreichen Abgesang auf die Große Koalition anstimmte, was nur bedeuten kann, dass er die FPÖ schon in der Regierung wähnt? Er wird wohl nicht das Szenario für wahrscheinlich halten, das abgetakelte ÖVP-Politiker, unter ihnen Erhard Busek und Herbert Paierl, propagieren: schwarz-grün-pink; Busek und Paierl nennen das „Vernunftehe“. Rot-grün-pink-Pilz dürfte sich wegen der eklatanten Schwäche der SPÖ wohl nicht ausgehen und wäre wie auch schwarz-grün-pink vom ständigen Scheitern bedroht.

Bei Fischer wundert man sich besonders, da er immer ein Rückversicherer war und das Interesse seiner Partei nie aus dem Auge verlor. Es könnte ja ein anderer Sozialdemokrat als Kern es für vernünftig halten, lieber den Vizekanzler neben Sebastian Kurz zu machen, als die SPÖ womöglich für länger als nur eine Legislaturperiode in der Opposition zu sehen. Der burgenländische Landeshauptmann, Hans Niessl, hält dementsprechend Opposition für „Mist“.

Im Übrigen ist Kerns diesbezügliche Ankündigung schon wieder vergessen. Kein Wunder: Eine solche „Drohung“, um letzte wankelmütige Grün- oder Pilz-Wähler zur SPÖ zu bringen, spricht man nicht zwei Monate, sondern ein paar Tage vor der Wahl aus; selbst dann ist die Wirkung ungewiss.

Hans Rauscher im „Standard“ dagegen hält eine Koalition unter einem Kanzler Kurz für die SPÖ für unzumutbar. Wenn sich die SPÖ als „Beiwagerl“ dafür hergebe, „wird sie überflüssig. Ihr Selbstverständnis würde das nicht zulassen“, schreibt Rauscher.

Das ist eine typische und im österreichischen Journalismus weitverbreitete Sichtweise: Die SPÖ hat den Anspruch auf den Kanzler, weil das ihrem Selbstbild entspricht. Der ÖVP dagegen darf zugemutet werden, nun schon seit 1986 – mit der Unterbrechung von 2000 bis 2007, aber das war ein Irrtum der Geschichte – das Beiwagerl für die SPÖ zu spielen. Ob das vielleicht auch dem „Selbstverständnis“ der Partei als potenzielle Kanzlerpartei (die sie fast genau so lang war wie die SPÖ) widersprechen könnte, wird nicht gefragt.

Postenvergabe ohne die SPÖ?

Wenn die SPÖ aus Gründen ihres „Selbstverständnisses“ nicht als kleinerer Partner in eine Koalition mit der ÖVP gehen darf, bleibt ihr tatsächlich nur die Opposition. Aber auch das geht nicht mit dem Selbstbild einer Partei zusammen, die es für die Vollendung der Demokratie hält, wenn sie an der Macht ist. Die SPÖ hat außerdem einen ganz praktischen Grund, in der Regierung – ob als Erster oder Zweiter – zu sein: Sie erinnert sich noch sehr gut daran, was es bedeutet, als Oppositionspartei von der Postenvergabe ausgeschlossen und von den Ministerien abgeschnitten zu sein, in denen sich – gerade bei der SPÖ – die Abgeordneten ihre Arbeit machen lassen.

Duellieren um „soziale Frage“

Die Panik bei der SPÖ hat nicht nur mit dem erwarteten Wahlergebnis und dessen Folgen zu tun, sondern mit dessen Ursachen: Wenn es stimmt, was die Meinungsforscher sagen, dass die FPÖ zur SPÖ aufgeschlossen hat, ergibt sich folgendes Bild: Die ÖVP hat ihr „bürgerliches“ Stammpublikum weitgehend aktivieren können, während FPÖ und SPÖ um jenes Publikum konkurrieren, das sich von der „sozialen Frage“ betroffen fühlt. Das ist freilich nicht neu, sondern gilt seit Jörg Haider, und seit Heinz-Christian Strache die FPÖ zur „sozialen Heimatpartei“ stilisiert hat. Das Problem zwischen SPÖ und FPÖ ist kein „ideologisches“ (rechts versus links), sondern ein strategisches.

Für Deutschland – und man kann das cum grano salis wohl auch auf Österreich anwenden – hat der ehemalige SPD-Chef und Ministerpräsident Oskar Lafontaine definiert, worin die soziale Frage hier und heute besteht: „Durch die Antworten aller Parteien auf die weltweite Flüchtlingsproblematik wurde das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt“, schreibt der jetzige Politiker der Linken. Ein Kommentator meinte dazu sarkastisch: Es müsse für die SPD und die Linke wie Hohn klingen, dass es nun „sozial gerecht“ sei, die AfD zu wählen.

Lafontaines Konsequenz daraus lautet: „Man darf die Lasten der Zuwanderung über verschärfte Konkurrenz im Niedriglohnsektor, steigende Mieten in Stadtteilen mit preiswertem Wohnraum und zunehmende Schwierigkeiten in Schulen mit wachsendem Anteil von Schülern mit mangelnden Sprachkenntnissen nicht vor allem denen aufbürden, die ohnehin bereits die Verlierer der steigenden Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sind.“

Wer ist „krass antieuropäisch“?

Wähler in ganz Europa, die sich in diesen Fragen nicht mehr durch sozialdemokratische Parteien vertreten fühlten, wanderten zu rechten Parteien ab. In Deutschland ist das eben passiert, es hat aber auch die Unionsparteien massiv getroffen. Kurz wird sich dadurch bestätigt fühlen, auf Distanz zu Angela Merkel gegangen zu sein.

Aber das war nicht das Thema in Tallinn. Dort ging es nur darum, dass die FPÖ, wie Kern berichtete, von den übrigen Regierungschefs für „krass antieuropäisch“ gehalten wird. Aber was soll „krass antieuropäisch“ heißen? Von den Austrittsfantasien einer Marine Le Pen etwa oder der deutschen AfD hat sich die FPÖ ausdrücklich distanziert. Wer die Zentralisierungs- und Umverteilungsvisionen von Emmanuel Macron nicht teilt und wer ein Europa der Vaterländer einem postnationalen Brüssel-Europa vorzieht, muss deswegen noch lang kein Antieuropäer sein.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2017)

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