Es verwundert mich immer wieder

Es verwundert mich immer wieder, wie selten in der hiesigen Arbeitswelt Konflikte durch eine klare Anweisung des Chefs geklärt werden.

Während meiner Studienzeit in Aachen hatte ich eine Zeit lang einen Job am Institut für Philosophie. Meine Aufgabe bestand darin, Recherche- und Schreibarbeiten für einen Professor zu erledigen, der gerade an einem Buch arbeitete. Einmal habe ich während der Dienstzeit die Kündigung meines Mietvertrags getippt, die längst überfällig war. Und just in diesem Moment kam der Professor ins Büro, zusammen mit einer anderen studentischen Hilfskraft, die rasch einen Brief für ihn aufsetzen sollte. Da im Büro nur ein Computer zur Verfügung stand, kam es zu einer Interessenkollision, die sich folgendermaßen auflöste. Der Professor sah, dass ich an etwas Privatem schrieb, und meinte: „Herr Krug, Priorität!“ Er sagte das in einem zwar bestimmten, aber keineswegs unfreundlichen oder übermäßig autoritären Tonfall. Es klang wie die völlig selbstverständliche Klärung eines Sachverhalts.

Jetzt arbeite ich schon seit zwanzig Jahren in Österreich, und es verwundert mich immer noch, wie selten in der hiesigen Arbeitswelt bei solchen Interessenkonflikten die magischen drei Worte fallen: „Herr Kollege, Priorität!“ Natürlich gibt es auch hier hierarchische Entscheidungen, aber sie fallen, wenn überhaupt, auf verschlungenen Wegen.


Das krasseste Gegenbeispiel zu meinem Philosophieprofessor habe ich hierorts ebenfalls in einer wissenschaftlichen Institution erlebt, mit einem Chef, der keineswegs das war, was man hierzulande ein „Lulu“ nennt, sonst hätte er seinen Job nie gekriegt. In seinem Projektteam befand sich eine Mitarbeiterin, die ein ausgeprägtes Schonungsbedürfnis an den Tag legte. Das äußerte sich nicht zuletzt in einer Vielzahl prophylaktischer Krankenstände, sodass der Chef ihr irgendwann riet, es doch einmal mit einer Kur zu probieren. Sie nahm den Rat dankbar an. Als kurz vor der Kur die Frequenz ihrer Krankenstände noch einmal kräftig anstieg, war der Bogen spürbar überspannt. Der Chef reagierte nur noch mit Schnaufen und Augenverdrehen, wenn sie wieder einmal über ihre Gebrechen seufzte.

In einer Teamsitzung eskalierte es schließlich auf gut Österreichisch. Als die Kollegin vor versammelter Runde den Termin für die bewilligte Kur mitteilte, begann der Chef auf seinem Sessel hin und her zu rutschen und meinte schließlich: „Aber am Tag danach wird sofort wieder gearbeitet!“ Die Kollegin wirkte leicht irritiert und entgegnete: „Selbstverständlich, ich brauche danach höchstens noch zwei, drei Tage zu Hause, zur Akklimatisierung.“ Alle im Raum zogen die Schultern hoch in der Erwartung eines Gewitters. Der Chef schnaufte, bekam große Augen. Doch alles, was folgte, war ein Senken des Kopfes, begleitet von einer abgrundtief resignierten Handbewegung.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2013)

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