Berlin

Einst Hort des bewaffneten Wahns. Dann der einzige Ort in Deutschland, wo man vom Militär verschont blieb. Und heute?

Als in Berlin die Mauer fiel, rief mich ein Freund aus Deutschland an und meinte: „Wiedervereinigung? Da ist mir offen gesagt der Kongo noch näher.“ Zur gleichen Zeit notierte Günter Grass ins Tagebuch: „Will lieber Zigeuner sein als Deutscher.“ Bald darauf mahnte er in einer Rede, die Deutschen hätten das Recht auf Wiedervereinigung verwirkt – wegen des Zivilisationsbruchs Auschwitz. Grass sagte das zu einem Zeitpunkt, als täglich Tausende die bankrotte DDR verließen. Ein Verbot der Wiedervereinigung hätte entweder Ostdeutschland entvölkert oder eine neue Mauer erfordert – eine Mauer im Namen von Auschwitz.

Aber vielleicht bin ich ja befangen. Denn dass mir die DDR näher war als der Kongo, hatte nicht zuletzt familiäre Gründe. Meine Mutter stammt aus Wolhynien, einer Region in der Ukraine. Als „Volksdeutsche“ geriet sie in die Wirren aus Umsiedlung, Flucht und Vertreibung. Nach dem Krieg wurde ihre vielköpfige Familie auseinandergerissen, ein Teil blieb in der DDR, einen anderen verschlug es ins Rheinland, einen dritten nach Westberlin.


Meine erste Erinnerung an Berlin.
Eine lange Fahrt über eine Autobahn, von der man nicht abfahren kann. Dann stehe ich mit meinen Eltern auf einer Aussichtsplattform und blicke über die noch junge Mauer auf einen öden, entvölkerten Streifen Stadt. Ein Wachturm ist zu sehen, Stacheldraht. Ein fremder Mann in unserer Nähe atmet schwer und schreit plötzlich: „Ihr Schweine!“ Meine Tante zeigt uns die Stadt, Straßen, Plätze, S- und U-Bahn-Linien enden plötzlich irgendwo, das Brandenburger Tor ist eingemauert.

In der Schule lernten wir, Berlin sei ein Bundesland, eine Insel zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Als die Bundeswehr an meine Tür klopfte und ich zweimal durch die „Gewissensprüfung“ für Wehrdienstverweigerer fiel, wurde diese Insel zu einer Option. Denn bis dorthin reichte der Arm der Behörden nicht, Militärpost durfte nicht durch DDR-Gebiet geschickt werden. Ausgerechnet Berlin, die Kapitale Kaiser Wilhelms II. mit seinem bewaffneten Wahn, dann der Sitz des kriegsversessenen NS-Regimes. Und nun war es der einzige Ort, wo man vom Militär verschont blieb.

Heute ist Berlin die Hauptstadt eines Landes, das zu seiner Geschichte und damit zu sich selbst zurückgefunden hat, eine raue, lebendige Metropole, regiert von einem schwulen Sozialdemokraten. (Nebenbei: Auch Hamburg hatte bis vor Kurzem einen homosexuellen „Landesvater“, einen Christdemokraten. Wäre so etwas in Österreich denkbar?) Man mag mit Berlin inzwischen vieles verbinden, aber wohl kaum etwas Martialisches.

Wie gut, dass die Geschichte nicht immer auf ihre Nobelpreisträger hört. Sonst wäre sie um einen ihrer glücklicheren Momente gekommen.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2011)

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