EU-Maßnahmen gegen die Krise haben die Krise nur verschärft

Der Austeritätsfalle entkommt Europa nur mit einer schlüssigen Zukunftsstrategie. Die EU braucht dringend eine Kehrtwende.

Die Eurozone steckt in einer tiefen Krise. In der Union sind 26 Millionen Menschen ohne Arbeit, zehn Millionen mehr als vor der Krise. In Spanien und Griechenland sprang die Arbeitslosenquote auf 27 Prozent. Mehr als 60 Prozent der Jugendlichen sind ohne Arbeitsplatz und ohne Zukunftsperspektive.

Berichte über zunehmende Obdachlosigkeit, lange Menschenschlangen vor Suppenküchen in Athen, Zwangsräumungen in Spanien, aber auch über Selbstmordwellen in Italien verdeutlichen, dass die Wirtschaftskrise bereits zu einer sozialen Krise geworden ist.

Die Rezession hat weite Teile der Eurozone erfasst, die Perspektiven sind düster. Dennoch hält die EU an alten Konzepten fest: Konsolidierung der Haushalte, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Strukturreformen. Die Therapie basiert auf fehlender Ursachenanalyse und ist symptomorientiert. Mit dem Schlachtruf „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ gelang den verantwortlichen Eliten die Umdeutung der Finanz- und Wirtschaftskrise in eine Schuldenkrise, deren Bekämpfung mit „Sixpack“, „Twopack“ und dem Fiskalpakt (Schuldenbremse) nur noch verschärft wurde. Dabei wird verkannt, dass der starke Anstieg der Staatsschulden eine Folge der Krise und nicht ihr Auslöser ist.

Verordneter Austeritätskurs

Die fehlerhafte Diagnose, mehrfaches Politikversagen sowie die beharrliche Verweigerung neoliberaler Ökonomen, aus dem Krisenverlauf zu lernen und einen Paradigmenwechsel einzuleiten, verstärkten seit 2010 die Wirtschaftskrise in der Eurozone. Den in Not geratenen Staaten Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern wurde nach dem Taktstock der „Troika“ ein Austeritätskurs um jeden Preis verordnet – mit der Folge tiefer sozialer Verwerfungen.

Die EU-Krisenpolitik ist gescheitert und ungeeignet, die Krisen in Europa zu lösen. Obwohl die verschärfte Fiskaldisziplin von vielen namhaften Ökonomen, vom IWF, von den Gewerkschaften und von Teilen der G20-Staaten kritisiert wird, fehlt bisher der politische Wille für einen Kurswechsel. Nach wie vor dominiert trotz der Krise auf den Finanzmärkten der Glaube an die Unfehlbarkeit der Märkte. Es wundert daher nicht, dass die Finanzmärkte die Politik immer noch vor sich hertreiben.

Mit dem „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz“, der vom Europäischen Rat noch im Juni auf Schiene gebracht werden soll, wird die EU ihre kontraproduktive Krisenpolitik noch verschärfen. Sie nimmt dabei Maß an genau jenen „Strukturreformen“, die den südeuropäischen Staaten vor Inanspruchnahme von Finanz- bzw. Bankenhilfen vertraglich auferlegt wurden. Diese rücken die Reduktion der öffentlichen Verschuldung und die Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum der Maßnahmen. Darum werden Lohnkürzungen und Korrekturen bei Lohnindexierung, Deregulierung der Produkt-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte, aber auch Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen, Steuererhöhungen sowie Privatisierungen (in Portugal sogar der Wasserversorgung) als Bedingungen festgeschrieben.

Strukturmaßnahmen, die an den wirklichen Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise ansetzen, vor allem deregulierte Finanzmärkte und Maßnahmen gegen die extrem ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, wurden halbherzig oder gar nicht angegangen. Auch Maßnahmen zur Senkung der Arbeitslosigkeit und Armut sowie zur Schaffung nachhaltigen Wachstums unterblieben ebenso wie der Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse in den Ländern des Nordens.

Das neu geschaffene Verfahren zum Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte wird asymmetrisch angewendet und wertet Leistungsbilanzdefizite anders als -überschüsse. Genau damit werden aber die Kosten der Anpassung zur Gänze den wirtschaftlich und sozial schwer angeschlagenen Staaten Südeuropas aufgebürdet.

Das „Troika für alle“-Konzept

Darin spiegelt sich die hegemoniale Position Deutschlands wider. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum im Jänner 2013 klar ausgesprochen, woran sie beim geplanten „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ denkt: Analog zum Fiskalpakt soll im Rahmen bilateraler Verträge zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission – erneut außerhalb der EU-Verträge – der Pakt fixiert werden, in dem sich die Staaten verpflichten, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.

Unverhohlen erklärte Merkel, dabei müssten etwa Lohnstückkosten und Lohnzusatzkosten im Zentrum stehen. Mit anderen Worten: Die in den südeuropäischen Staaten „erprobten“ Strukturreformen sollen europäisiert werden. Mit diesem „Troika für alle“-Konzept werden zentral die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und die Lohnpolitik ins Visier genommen. Beide spielen im fehlgeleiteten EU-Konzept zur Bewältigung der Schulden- und Wettbewerbskrise sowie der Arbeitslosigkeit die zentrale Rolle.

Beschleunigte Talfahrt

Lohnsenkungen im öffentlichen Sektor reduzieren dieser Lesart nach Haushaltsdefizite und Lohnsenkungen in der Privatwirtschaft, machen die Länder „wettbewerbsfähiger“. Im Bereich der Lohnpolitik stehen die Senkung bzw. das Einfrieren von Mindestlöhnen und Eingriffe in die Tarifautonomie der Sozialpartner im Fokus. Es geht aber auch um Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen.

Das Zusammenspiel von Austeritätspolitik und Strukturreformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit erweist sich allerdings als fatal. Die Reduktion öffentlicher Investitionen und öffentlichen Konsums sowie Einkommensverluste aus Lohnsenkungen und sozialstaatlichen Leistungskürzungen bewirken Einbrüche der Nachfrage. Das beschleunigt die Talfahrt der Wirtschaft, verfehlt erst recht das Ziel der Staatsschuldenreduktion und führt Europa in eine Depression.

Dieser Schritt der Ausweitung einer fehlgeleiteten Krisenpolitik muss verhindert werden. Europa braucht eine Kehrtwende. Ein klares Nein zum Pakt für Wettbewerbsfähigkeit wäre ein dringend notwendiger Schritt. Der Austeritätsfalle entkommt die EU nur mit einer Zukunftsstrategie, die diesen Namen verdient. Denn Europa geht anders: innovativ, sozial, ökologisch und demokratisch.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2013)

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