Syrien-Krise: Ein Deal mit Putin als Lösung?

Um der Flüchtlingskrise Herr zu werden, muss das syrische Problem gelöst werden – mit einem Kompromiss.

Schon im 4. Jahrhundert gab es die erste Völkerwanderung, und diese Völkerwanderungen wiederholten sich im Laufe der Zeit bis heute, allerdings wurden sie in der Zeit, als es noch keine EU gab, viel besser bewältigt – siehe die Hunderttausenden aus Ungarn und Tschechien. Obwohl die derzeitigen Flüchtlingskrisen in Libyen, Syrien und im Irak durch die Aktionen des Westens einerseits und in der Ukraine durch Putin andererseits vorhersehbar waren, haben die EU und die USA jahrelang nichts unternommen.

Keine Fluchtrouten

Bei den Vereinigten Staaten wundert es nicht, weil es dorthin keine Fluchtrouten gibt. Die Behauptung, dass es nur für die syrische Bevölkerung nicht mehr möglich ist, friedlich zu leben, ist unrichtig, denn seitdem die Amerikaner aus Afghanistan und dem Irak abgezogen sind, herrschen auch dort Verhältnisse, die nicht menschenwürdig sind.

In der EU gibt es keine Solidarität und wird diese immer aufgrund der Vielzahl von Staaten Theorie bleiben. Allerdings hat uns Österreicher auch nicht interessiert, wie seit Jahren die Zustände in der spanischen Enklave Melilla/Marokko und in Süditalien sind.

Das nunmehrige Problem, das uns Mitteleuropäer betrifft, entstand dadurch, dass sich Millionen geflüchteter Syrer, Iraker und Afghanen nicht mehr in den angrenzenden Staaten Türkei und Griechenland „aufhalten“ konnten und deshalb weiter nach Mitteleuropa ziehen. Nunmehr will die EU zwar den Flüchtlingen in den Nachbarländern von Syrien helfen, aber diese Hilfe kommt viel zu spät.

Mit dem Abriegeln aller Grenzen ist das Flüchtlingsproblem sicher nicht gelöst, abgesehen davon, dass es besonders hart für die tausenden bereits auf der Flucht befindlichen und nunmehr gestrandeten Syrer, Iraker und Afghanen ist, kann es jederzeit zu einer Explosion in den Flüchtlingsunterkünften kommen. Daher ist vorrangig das syrische Problem zu lösen, wobei dies sicher nicht einseitig aus der Sicht des Westens oder des Ostens sein kann. Es wird hier genauso wie bei der Atomvereinbarung zu einem Kompromiss kommen müssen.

Rücktritt des Diktators

Der Friedensnobelpreisträger Martti Ahtisaari erklärte kürzlich, dass er 2012 an Verhandlungen der Weltmächte beteiligt war, wo Russland vor drei Jahren in einem Friedensplan den Rücktritt von Assad in Syrien vorschlug. Doch die USA, Frankreich und Großbritannien hätten den Plan damals ignoriert – das Ergebnis ist die nunmehrige Flüchtlingskrise.

Die Argumente des Westens seien gewesen, dass Assad sowieso in wenigen Wochen aus dem Amt geworfen werde. Die Taktik des Westens, die Extremisten in Syrien in Gute und Böse aufzuteilen, ist in meinen Augen lächerlich, denn Extremist bleibt Extremist. Das ergibt sich schon allein daraus, dass die sogenannten „guten“ Extremisten die von Amerika gelieferten Waffen in den auch dort üblichen Deals an die sogenannten „Bösen“ weitergeben.

Londoner Militärexperten behaupten, dass der Westen eine falsche Strategie verfolge, da das Problem sei, dass er sich auf die Ideologie konzentriere, aber der IS ein rationaler politischer Akteur sei.

Stopp von Waffenlieferungen

Jedenfalls gelang es Putin auch hier, sich stark einzuschalten, und der Westen weiß – wie schon so oft – nicht, was er tun soll. Ich bin der Meinung, dass man sofort die Waffenlieferungen in den Nahen Osten einstellen muss, dann werden sich die militärischen Aktionen der verschiedenen Rebellengruppen wesentlich verringern, Voraussetzung dafür ist natürlich eine Vereinbarung mit Putin, dass auch dieser die Waffenlieferungen an Assad einstellt.

Die auf der ganzen Welt, insbesondere in USA, Frankreich, Deutschland und Russland blühende Waffenproduktion und die damit verbundenen Wirtschaftszweige kann man sehr gut ersetzen, indem die finanziellen Mittel dafür in die Forschung und eine bessere Versorgung nicht nur der hungernden Bevölkerung in den afrikanischen Staaten, die vormals schon von Kolonialmächten geplündert wurden, verwendet werden.

Also den Menschen ein längeres Leben durch die Forschung zu gewährleisten, als die Menschen durch die diversen militärischen Auseinandersetzungen zu vernichten.

Das brennende Flüchtlingsproblem kann nur durch eine Vereinbarung zwischen dem Westen und Putin in der Form gelöst werden, dass einerseits Assad nicht das Gesicht verliert, andererseits aber die Rebellengruppen nicht mehr militärisch versorgt werden. In der Folge muss eine Wahl unter internationaler Aufsicht in Syrien durchgeführt werden. Wenn es nicht rasch zu einer solchen Lösung kommt, werden die Millionen Flüchtlinge, die in den umliegenden Staaten noch einer Lösung harren, nach Europa strömen, das lässt sich dann aber nicht mehr bewältigen.

Völlig klar ist, dass nach dieser in Relation zum bisherigen afrikanischen Problem noch überschaubaren Problematik es nicht mehr lange dauern wird, bis die afrikanische Flüchtlingswelle auf Europa zurollt; sie wird eine größere Dimension haben als die bisherige.

Putin hat schon jahrelang den syrischen Diktator Assad militärisch versorgt und im UNO-Sicherheitsrat ein internationales Vorgehen im Syrien-Konflikt blockiert. Nunmehr errichtet Putin sogar offiziell einen Luftwaffenstützpunkt in Syrien und propagiert die Aufrüstung des syrischen Systems als einzig effizientes Mittel gegen den Jihadismus.

Ein Pakt mit Putin ist schon allein deshalb nichts Verwerfliches, weil sich schon einmal der Westen gegen den NS-Staat mit Stalin verbündet hat. Im Hinblick auf den Umstand, dass der De-facto-Zustand der Ukraine mit der Annexion der Krim und des Donezk-Beckens Realität ist, sollte man mit Putin einen Deal schließen, wonach man diesen Zustand akzeptiert, und Putin verzichtet auf die Unterstützung von Assad.

Wichtige soziale Medien

Immer wichtiger wird das Instrument der sozialen Medien. Nur von kritischen Nutzern werden die Manipulationen der sozialen Medien erkannt. Die sozialen Medien sind eine immense Gefahr für jedes Regime, deshalb kontrollieren Russland und China diese total. Zu den Ausführungen von Joseph S. Nye im „Presse“-Kommentar vom 14. 9. dazu, „wie man den IS wirksam bekämpfen könnte“, mit Hinweis auf die diplomatische Kunst der USA, meine ich, dass die USA selten eine diplomatische Kunst besaß.

Abgesehen davon, dass uns allen vor Augen geführt wird, dass die EU bisher in der Flüchtlingsproblematik total versagt hat und es auch keine deutlichen Signale zu einer Besserung gibt, ist die Angst vor den Folgen der gegenwärtigen Massenzuwanderung – siehe auch die Kolumne von Michael Prüller in der „Presse“ vom 20. 9. – unberechtigt. Der Anteil der islamischen Bevölkerung in Europa beträgt derzeit sechs Prozent, und bei einem Zuzug von vier Millionen Moslems würde der Anteil auf 6,7 Prozent angehoben werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Prof. Dr. Nikolaus Lehner
(*1939 in Wien) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Er war 40 Jahre lang Rechtsanwalt in Wien, spezialisiert auf Kunst, Kultur und Patientenschutz. 2008 wurde ihm für seine Verdienste um die Republik Österreich der Berufstitel Professor verliehen. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2015)

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