Europa will nicht genesen, an Angela Merkels Wesen

Tugend-Imperialismus. Deutschlands offene Türen für Flüchtlinge stoßen vor allem in Mittelosteuropa auf Unverständnis und Ablehnung.

Das Migranten- und Flüchtlingsproblem in Deutschland ist zum Psychodrama Angela Merkels geworden. Seit fast zwei Monaten weigert sich die Bundeskanzlerin in obstinater Selbstgerechtigkeit, die Folgen ihrer Entscheidung, die Grenzen für Flüchtlinge und Immigranten zu öffnen, zur Kenntnis zu nehmen und wiederholt stereotyp ihr „Wir schaffen das!“. Was eigentlich „wir schaffen“, sagt sie nicht. Die Verteilung und Unterbringung vielleicht gerade noch – aber Integration in Arbeitsmarkt, Schule, Gesellschaft?

Als die Kanzlerin Anfang September ankündigte, Deutschland werde keine Migranten, die über Ungarn und Österreich an die deutschen Grenzen kommen, zurückschicken – auch dann nicht, wenn sie nicht registriert seien, ist das als eine spontane Reaktion auf einen unmittelbaren Notstand verstanden worden. In kurzer Zeit werde man wieder zur „Normalität“ zurückkehren. Aber seither gibt es keine Normalität mehr, wenn darunter die Kontrolle der Grenzen verstanden wird.

Es ist nicht die erste abrupte Abkehr von vermeintlich unverrückbaren Positionen der Kanzlerin und ihrer Partei. Das war so bei der „Energiewende“, der Abschaffung der Wehrpflicht, der Frauenquote in Vorständen und dem Mindestlohn. Viele meinen, an dieser neuesten Kehrtwende Merkels einen dahinterliegenden religiösen Antrieb zu erkennen.

Als „Hohepriesterin der deutschen Flüchtlingspolitik“, hat sie ein deutscher Kommentator sarkastisch bezeichnet. Das Kanzleramt nennt er den Berliner Heiligen Stuhl, der die Devise ausgebe: Christenpflicht bricht europäisches Recht. Sie ersetze „Recht und politische Gestaltungsfähigkeit durch Nächstenliebe“.

Zur christlichen Motivation kommt aber wohl noch eine andere dazu: Mit sicherem populistischen Instinkt erfasst Merkel Situationen, die ihr Gelegenheit bieten, Politik mit Emotion zu verbinden. Jahraus jahrein erscheint sie als Managerin von unerfreulichen Dingen, wird als Politikerin der Macht wahrgenommen, die es mit Wladimir Putin und Alexis Tsipras aufnimmt und sich mit dem Koalitionspartner herumschlagen muss. Da ergreift sie jede Möglichkeit dazu, gewissermaßen mit menschlichem Antlitz zu erscheinen.

Merkel hat mit einem Schlag das gesamte europäische Regelwerk zur Steuerung von Migration, soweit es noch wirksam war, außer Kraft gesetzt, um nachher lapidar festzustellen, „Dublin funktioniert nicht mehr“. Dass man Migration ohnehin nicht aufhalten könne, wie sie sagt, mag zwar richtig sein, der Versuch, sie zu steuern, muss dennoch gemacht werden. Merkel leugnet auch, dass ihre Entscheidung den Flüchtlingsstrom zwar nicht ausgelöst, jedenfalls aber verstärkt hat.

Erschüttertes Vertrauen

Er sei „entsetzt“, sagte dieser Tage ein hoher österreichischer Richter, dass ein Staat derart überfordert sein könne, eine seiner Grundfunktionen – die Kontrolle der Grenzen nämlich – nicht mehr auszuüben. Wenn Rechtsvorschriften kollektiv nicht eingehalten würden, „wird das Vertrauen in die Institutionen des Staates erschüttert“. Er bezog diese Kritik nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf Österreich.

Es ist zu einem Mantra geworden, das auch die deutsche Bundeskanzlerin ständig wiederholt, dass das Problem der Flüchtlings- und Migrationsströme nur in einem europäischen Rahmen gelöst werden könne. Aber von Europa zu reden, hat nur einen Sinn, wenn dieses Europa Außengrenzen hat, die es zu kontrollieren weiß. Und – auch das ist fast schon ein Gemeinplatz – die Staatsgrenzen können nur offen gehalten werden, wie es das Schengen-Abkommen vorsieht, wenn sich die Staaten darauf verlassen können, dass es überhaupt eine Außengrenze gibt.

Wenn von europäischen Lösungen die Rede ist, sind damit immer auch die mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten der EU, aber auch die baltischen Länder und Finnland gemeint, die ihren „gerechten Anteil“ an Flüchtlingen aufnehmen sollten. Dazu seien sie aus europäischer „Solidarität“ verpflichtet. Das haben sie schon gehört, als die Euroländer unter ihnen aus „Solidarität“ die Haftungen für das unsolide agierende Griechenland übernehmen mussten, während sie selbst zu strikter Budgetpolitik angehalten werden.

Die gegen ihre Stimmen beschlossene Verteilung von Flüchtlingen betrachten diese Länder mit Groll, weil sie merken, dass sie damit zu Geiseln der durch die Bundesrepublik Deutschland eingeführten Kultur der Grenzenlosigkeit gemacht werden. Der Quotenautomatismus ohne Begrenzung nach oben sei ein Signal, dass die Grenzen nicht mehr existieren, wird etwa in Polen argumentiert.

Keine Rücksicht auf Nachbarn

Die Verteilung sei überdies wirkungslos, außer man wollte die Menschen in Lager sperren. Sonst würden sie bei erster Gelegenheit in den Westen fahren, wo sie mehr Chancen auf Arbeit haben und sich höhere Sozialleistungen ausrechnen können.

Der erste Botschafter Polens in Deutschland nach der Wende, Janusz Reiter, hat für die Sorgen der mittelosteuropäischen Länder bezeichnenderweise eine Parallele zur „Energiewende“ gezogen, bei der Deutschland auch keine Rücksicht auf die Nachbarn genommen habe, die bis heute eine emotionale Entscheidung Merkels auszubaden hätten.

Diese Länder können in der deutschen „Willkommenskultur“ keinen Wert erkennen, und das muss ihnen unbenommen sein. Deutschland hat sich zwar nie als Einwanderungsland definiert, macht sich aber faktisch zu einem, – freilich ohne die Vorkehrungen, die klassische Einwanderungsländer getroffen haben. Dabei nimmt es wenig Rücksicht darauf, dass Polen, Tschechien oder Ungarn vielleicht andere Vorstellungen von ihrer Zukunft haben.

Weitere Vergemeinschaftung

Diese Länder haben den begründeten Verdacht, dass nun auch die Verteilung der Flüchtlinge und Migranten zu einem Instrument der weiteren Vergemeinschaftung der EU gemacht wird, ohne dass die Gemeinschaft das je formell beschlossen hätte.

Deutschland hat sich entschieden – oder besser gesagt, Merkel hat für Deutschland entschieden – ein anderes Land zu werden. Für Ungarn etwa oder die Slowakei und Tschechien ist Einwanderung kein erstrebenswertes Ziel – und auch nicht die westliche Neigung zum Multikulturalismus. Im Islam sehen sie keine Bereicherung für ihre Gesellschaften. Das spricht freilich nur der ungarische Regierungschef offen aus.

Auch Franzosen skeptisch

Aber auch im Westen wird Deutschlands Politik in der Flüchtlingsfrage nicht ohne Skepsis gesehen. In Frankreich lehnt eine große Mehrheit der Bevölkerung eine Willkommenskultur nach deutschem Vorbild ab. Auch Präsident François Hollande nimmt dieses Wort nicht in den Mund.

Er hat sich allerdings eindeutig auf die Seite Merkels geschlagen, wenn er für eine Europäisierung der Flüchtlingspolitik eintritt. Er spricht aber auch aus, was Merkel und die Deutschen nicht gern hören: Die Fluchtbewegungen würden nicht aufhören, wenn Europa nicht bereit sei, in Syrien und anderswo politisch und, nicht mitgesagt, militärisch einzugreifen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2015)

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