Dollfuß, die Historiker und die Parteipolitik

Arbeitermörder oder Heldenkanzler: Es ist noch immer nicht möglich, eine ideologiefreie Diskussion über Engelbert Dollfuß zu führen.

Über beinahe alles herrscht heute Einigkeit, was die österreichische Zeitgeschichte betrifft: Man hat ein übereinstimmendes Bild von dem Ende der Monarchie und dem Entstehen der Republik, von der Rolle der politischen Parteien, dem Bürgerkrieg von 1934 und von umstrittenen Persönlichkeiten wie Karl Renner und Ignaz Seipel entwickelt. Einzig bei Engelbert Dollfuß herrscht eine divergierende Sichtweise, die auch 75Jahre nach seinem Tod nicht gebündelt werden konnte. Hier „Arbeitermörder“, da „Heldenkanzler“. Es hat sich ein im wahrsten Sinne des Wortes stark verkürztes Dollfuß-Bild manifestiert: Das Stichwort „Dollfuß“ mündet reflexartig in eine Debatte über das Dollfuß-Bild im VP-Parlamentsklub.

Dass historisch nicht im Detail Interessierte ein schablonenhaftes Bild von der Rolle Engelbert Dollfuß' haben, das sich bloß in den Kategorien „Gut“ und vor allem „Böse“ abspielt, mag noch nicht schlimm sein. Außer, dass es Historikern offenbar bisher nicht gelungen ist, dem erfolgreich entgegenzuwirken.

Sozialversicherung für Landarbeiter

Schlimm ist allerdings, dass es nicht einmal innerhalb der Zunft der Historiker möglich ist, professionell, das heißt sachlich, über Dollfuß zu diskutieren. Auch sie werden meist sehr emotional und verfallen in Gut/Böse-Schemata. Persönliche Betroffenheit und parteipolitische Einstellung trüben bei vielen den Blick, der nach Objektivität streben sollte. Bei keinem anderen Thema ist das so spürbar wie bei der Person Engelbert Dollfuß.

Dies ist auch deshalb schlimm, weil Geschichtswissenschaftler so nicht nur nichts dazu beitragen, das Lagerdenken der Zwischenkriegszeit zu überwinden, sondern dies noch bei jedem Gedenktag neu in Erinnerung rufen. Dabei spielt es heute gesellschaftlich kaum mehr eine Rolle.

Es wird im Zusammenhang mit dem Namen Dollfuß noch immer ausschließlich der Februar 1934 thematisiert und die unbestritten schreckliche Fehlentscheidung, einige der Aufständischen hinzurichten. Das macht Dollfuß nicht sympathisch; Sympathie und Antipathie sind jedoch keine Kategorien der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer historischen Persönlichkeit. Und sie sind auch kein Grund, alle anderen Facetten seiner Person und seines Wirkens nicht zu beleuchten, ja sie gar nicht beleuchten zu wollen!

Es passt nicht ins Bild des „Arbeitermörders“, dass dieser eine Sozialversicherung für Landarbeiter durchgesetzt hat, oder dass er in der damaligen schweren Bankenkrise eine Anleihe des Völkerbundes erreichen konnte, um den Zusammenbruch von Großbanken zu verhindern. Er hat dies unter anderem gegen den Willen der Sozialdemokraten erwirkt. Und schließlich passt es schon gar nicht in dieses Bild, dass er erbittert gegen den Nationalsozialismus angekämpft hat und schließlich von Nazis ermordet worden ist.

Offene Debatte nicht erwünscht

Diese Fakten aufzuzählen hat nichts mit einer Verteidigung der Person zu tun, sondern ist für eine historisch korrekte Darstellung unabdingbar. Die Geschichtswissenschaft darf es sich nicht einfach machen und Schablonen übernehmen, sondern sie muss alle verfügbaren Quellen auswerten, diese in einen Zusammenhang stellen und aus dem historischen Kontext heraus zu erklären suchen.

Bei Engelbert Dollfuß scheint dieses Grundprinzip bewusst außer Kraft gesetzt zu werden. Man hat in Bezug auf Dollfuß sogar den Eindruck, dass eine offene Debatte in sachlichem Stil, wie sonst im wissenschaftlichen Diskurs üblich, gar nicht erwünscht ist.

So ist es nicht verwunderlich, dass es 70 Jahre dauerte, bis die erste wissenschaftlich aufgearbeitete Biografie über Engelbert Dollfuß erschien, nämlich von der Autorin dieser Zeilen. Und es ist gewiss kein Zufall, dass diese nicht im universitären Bereich entstand, sondern außerhalb als Buchpublikation einer freien Historikerin und Publizistin, verlegt vom unerschrockenen Fritz Molden.

Es entsteht der Eindruck, dass es bei Dollfuß um mehr geht als um die moralische Verurteilung eines „Arbeitermörders“, als sollte durch die Hervorhebung der Heldenhaftigkeit des Widerstandes gegen den „Austrofaschismus“ vom Versagen der Sozialdemokratie beim Widerstand gegen den Nationalsozialismus abgelenkt werden. Bis auf wenige Ausnahmen hatte sie den aktiven Widerstand anderen, etwa den Kommunisten und Legitimisten, überlassen. Folgerichtig wird von dieser Seite bis heute die Zeit von 1934 bis 1945 gern in einen Topf geworfen und die Unterscheidung zwischen „Austrofaschismus“ und Nationalsozialismus bewusst unterdrückt. Der Laie bekommt so den Eindruck, Dollfuß sei genauso schlimm oder noch schlimmer als Hitler gewesen. Die Bezeichnung „Nationalsozialismus“ scheint heutigen Sozialdemokraten noch immer unangenehm zu sein. Deshalb bezeichnet man diese Zeit einfach als Zeit der faschistischen Diktatur, als wären beide Systeme eine Einheit gewesen und hätten einander nicht erbittert bekämpft.

Unerträglich ist diese wissentliche Geschichtsfälschung, wenn in Wien an der Stelle des ehemaligen Hotels Metropol, des Sitzes der Gestapo, auf einer Tafel den „Opfern des Faschismus“ gedacht wird und bewusst die Systeme des Ständestaats und des Nationalsozialismus gleichgestellt werden.

Neues aus Moskau?

Die parteipolitische Prägung im Diskurs der Historiker über Engelbert Dollfuß und die Zwischenkriegszeit tut der zeitgeschichtlichen Forschung nicht gut. Wobei auffällt, dass Historiker mit bürgerlichem Hintergrund eher zu sachlicher Diskussion bereit sind als sozialdemokratisch orientierte.

Man darf gespannt sein, was die aus Moskau überstellten Akten aus der Zwischenkriegszeit beinhalten, und ob sie neue wichtige Fakten enthalten. Vielleicht wird es dann – 75 Jahre nach dem Tod von Dollfuß – endlich möglich sein, eine sachlich fundierte Diskussion unter Historikern zu führen.

Walterskirchen Gudula, Engelbert Dollfuß. Arbeitermörder oder Heldenkanzler, Wien, 2004.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2009)

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