Warum Frauen gerade in Krisenzeiten aufsteigen

Wenn in Politik oder Wirtschaft der Hut brennt, wird ganz gern eine Frau geholt, um die Löscharbeiten zu übernehmen.

Es sind unruhige Zeiten, in denen die zweite Premierministerin der britischen Geschichte ihr Amt angetreten hat. Theresa May ist in die Downing Street Nr. 10 eingezogen mit der formidablen Vorgabe, den Austritt ihres Landes aus der EU zu verhandeln. In einer Welt, die politisch wie auch wirtschaftlich schwer erschüttert ist, vertrauen die Briten offenbar auf die ruhige Hand einer Frau, um das Land zu stabilisieren und in einer diplomatisch heiklen Lage klug zu verhandeln.

Dabei hat May mit einem ihrer ersten Schritte gleich für gehörigen Wirbel gesorgt, als sie nämlich das Enfant terrible der britischen Politik, Boris Johnson, zum Außenminister machte. Reflektieren wir also ein klein wenig den historischen Moment, den uns May da im Juli beschert hat, und überprüfen wir, ob es vielleicht einen übergeordneten Zusammenhang für die Umstände gibt, unter denen sie an die Spitze des Staats gelangte. Vor ein paar Wochen noch haben nur Kenner der politischen Szene Großbritanniens mit dem Namen Theresa May etwas anfangen können. Sie war britische Innenministerin im Kabinett Cameron – eine fähige, hart arbeitende Sachpolitikerin, die aber international kaum auffiel.

Dann stimmten die Briten unerwarteterweise für den Brexit. Damit begann das Köpferollen unter den männlichen Alphatieren, und zwar überraschenderweise auf beiden Seiten des Referendums – also sowohl im unterlegenen „Remain“- als auch im siegreichen „Leave“-Lager.

An der „gläsernen Klippe“

Während potenzielle und vermeintliche Anwärter auf das Amt des Premierministers (und natürlich der Amtsinhaber selbst) reihenweise ausfielen, war der Weg am Ende frei für May, die Pragmatikerin mit Hang zu Sachthemen. Sie sagt von sich selbst, dass das Auffallen um jeden Preis ihre Sache nicht sei. Dabei sollte man sie aber rhetorisch keinesfalls unterschätzen, ihre Auftritte zeugen stets von großer Redegewandtheit.

Die erste weibliche Premierministerin Großbritanniens ist sie natürlich nicht – dieser Titel gehört für immer Margret Thatcher. Deshalb kann man auch nicht sagen, dass Theresa May eine gläserne Decke durchstoßen habe. Der Ausdruck wurde ja für jene Frauen geprägt, denen es gelingt, eine – wenn auch unsichtbare – Barriere zu überwinden und eine bis dahin nur von Männern besetzte Position zu erringen. May ist vielmehr an der „gläsernen Klippe“ gelandet.

Der Ausdruck beschreibt die Tatsache, dass Frauen überproportional häufig in Krisensituationen in eine Führungsposition gelangen. Studien haben sich bereits mit dem Phänomen beschäftigt und bestätigen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Grad an Risiko, den eine Führungsrolle impliziert, und der Wahrscheinlichkeit, diese Rolle dann mit einer Frau zu besetzen. Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen: Wenn der Hut brennt, wird ganz gern eine Frau zum Löschen geholt.

Die politische Situation in Großbritannien nach dem Brexit entspricht genau diesem Schema, erklärt Michelle Ryan, eine Soziologin an der University of Exeter. Nach dem überraschenden Ergebnis des Referendums hätten die Männer gesagt: Warum soll ich mir das antun? Dabei muss man nicht einmal so weit gehen zu argumentieren, dass Frauen in brenzligen Situationen an Bord geholt werden, weil man sie scheitern sehen will. Michelle Ryan meint, der springende Punkt sei vielmehr, dass die Männer nicht scheitern wollen.

Das Phänomen der gläsernen Klippe gibt es aber auch in der Wirtschaft. Zu Jahresbeginn 2014 hievte General Motors Mary Barra in den Chefsessel. Sie ist bis heute die einzige Frau weltweit an der Spitze eines großen Automobilherstellers. Zu dem Zeitpunkt war GM in massiven Schwierigkeiten, am Ende musste das Unternehmen 2,6 Millionen Autos wegen fehlerhafter Zündschlösser zurückrufen.

Zugreifen, wenn Angebot da ist

Auch in Silicon Valley gibt es solche Beispiele: 2008 hatte einer der Gründer von Yahoo ein Übernahmeangebot von Microsoft in Höhe von 44 Milliarden Dollar mit der Begründung abgelehnt, es sei zu niedrig. Die Entscheidung galt bereits damals als höchst umstritten, um nicht zu sagen falsch. Der Stern des einstigen Internetgiganten war eindeutig im Sinken.

Marissa Mayer wurde 2012 zum CEO von Yahoo bestellt, konnte das Schiff aber offenbar nicht mehr retten. Sie wird wohl die letzte Vorstandsvorsitzende von Yahoo sein, wenn der geplante Verkauf der Internetsparte an Verizon wie geplant durchgeht. Und wer soll die Integration von Yahoo in den Verizon-Konzern über die Bühne bringen? Natürlich eine Frau – Marni Walden, bei Verizon zuständig für Produktinnovation.

Wenn ein Unternehmen eine Frau an die Spitze holt, gab es in den Monaten davor mit größerer Wahrscheinlichkeit innerbetriebliche Turbulenzen als in den immer noch überwiegenden Fällen, in denen ein Mann zum Chef gemacht wurde. Frauen wiederum sind nicht in der komfortablen Lage, sich die Chance auf den Spitzenjob nach Belieben aussuchen zu können. Wenn er ihnen dann schon einmal angeboten wird, greifen sie zu.

Weibliche Qualitäten

Aus der Sicht des Unternehmens, das in harten Zeiten eine Frau befördert, heißt das Phänomen übrigens Status quo bias. Man bleibt beim bewährten – sprich männlichen – Führungsschema, wenn die Performance passt. Tut sie das nicht, ertönt immer öfter der Ruf nach einer weiblichen Führungskraft. Das bedeutet natürlich nicht, dass Frauen immer in die Rolle des Prügelknaben gedrängt werden oder dass Männer keine schwierigen Aufgaben übernehmen.

Man könnte es in einem positiveren Kontext so beschreiben: Die Auswahl einer Frau als Führungskraft signalisiert immer eine Veränderung, und sie deutet auf jene Eigenschaften hin, die man typischerweise Frauen zuschreibt: Empathie und Einfühlungsvermögen, Fähigkeit zum Zuhören und zur Zusammenarbeit. Das sind aber eben genau jene Qualitäten, die in einer Krise gefragt sind.

Großbritannien befindet sich nach dem Brexit-Votum in einer Krise. Es ist die Stunde der Frauen. Theresa May muss als neue britische Premierministerin nun den Brexit möglichst vorteilhaft für das Vereinigte Königreich verhandeln. Auf der Gegenseite steht mit Angela Merkel in zentraler Rolle ebenfalls eine Frau, ebenfalls eine eher nüchterne Sachpolitikerin und ebenfalls, wie viele angemerkt haben, eine Pastorentochter.

Jede Menge Frauenpower

Aber auch innenpolitisch wird sich May mit jeder Menge Frauenpower auseinandersetzen müssen. Nicola Sturgeon ist die „Erste Ministerin“ Schottlands und, wie die Schotten insgesamt, eine EU-Befürworterin. Auch in Nordirland steht mit Arlene Foster eine Frau an der Spitze des National Assembly. Ihr (männlicher) Amtsvorgänger trat in den vergangenen sechs Jahren insgesamt dreimal (!) von seinem Amt zurück, einmal davon im Zuge eines Skandals. Der jüngste Rückzug dürfte wohl final sein. Schon bei früheren Rücktritten sprang Foster jedes Mal für ihn ein. Heuer, kurz vor dem Brexit-Votum, hat sie es wohl endgültig geschafft. Klingt nach gläserner Klippe, oder?

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2016)

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