Marx, Murks und die Mitschuldigenan „Völkermorden“

Replik. Die ausgesprochen betriebsblinde Sicht eines Historikers auf Karl Marx und die Folgen.

Anlässlich des 150. Erscheinungsjubiläums des ersten Bandes von Marx' „Kapital“ hat Gerhard Oberkofler, Historiker und bekennender „Marxist“, zwar keine kritische Würdigung dieses welthistorisch folgenreichen Werkes vorgenommen, aber mit dem „Kapitalismus“ abgerechnet („Presse“-Gastkommentar, 10. 4.).

Wenn man bei einem solchen Rundumschlag zu heftig ausholt, kann man leicht Schlagseite bekommen. So passieren dann einige, obschon wenig überraschende Einseitigkeiten. Anders als von Marx erwartet und von Oberkofler behauptet, hat die Akkumulation von Reichtum auf der einen Seite nicht notwendigerweise zur Akkumulation von Elend auf der anderen geführt. Durch Arbeit und Produktion kann Wohlstand bekanntlich auch vermehrt werden.

Damit soll nicht geleugnet werden, dass seine Verteilung ungleich ist, die Ungleichheit phasenweise zunimmt und dies auch negative Folgen hat. Es kann und soll auch nicht in Abrede gestellt werden, dass Kapitalismus oft auf Ausbeutung beruht(e). Aber dies traf über viele Jahre auch auf Volkswirtschaften mit „marxistischer“ Staatsideologie wie jene der UdSSR und der VR China zu. Es bleibt auch das Faktum, dass die bisherigen „realsozialistischen“ Alternativen zum Kapitalismus wirtschaftlich gescheitert sind – von ihrer verheerenden Menschenrechtsbilanz ganz zu schweigen.

Einseitiges Abarbeiten

Doch Oberkofler geht auf diese Dinge nicht ein, sondern bald zum Hauptanliegen über, nämlich zur Abarbeitung am „US-Imperium“ und an den „Monopolen der kapitalistischen Weltmächte“. Die Verantwortung westlicher Staaten für zahlreiche aus der Logik des Kalten Krieges resultierende defensive, präventive oder offensive Interventionen und auch Verbrechen soll nicht bestritten werden. Ebenso wenig wie die dunklen Seiten des Treibens mancher Konzerne. Allerdings bedurfte es nicht des Kapitalismus, um Gewalt und Sklaverei in die Welt zu bringen.

Und Lenins „gerechte Kriege“?

Und wenn man schon Henry Kissinger, der den US-Rückzug aus Indochina einfädelte, als „Mitverantwortlichen“ des „Völkermordes“ apostrophiert, sollte man auch die anderen Verantwortlichen für das Massensterben in Ostasien nennen. Darunter „marxistische“ Säulenheilige wie Kim Il-sung und Stalin, die den Korea-Krieg mit drei bis vier Millionen Toten begannen; Mao, der dazu beitrug und die Kulturevolution und den Große Sprung entfesselte (15 bis 40 Millionen Tote); Ho Chi Minh, der Massaker und den Krieg in Vietnam vorantrieb (zwei bis fünf Millionen Tote) oder Pol Pot, dessen Steinzeitkommunismus ein bis zwei Millionen Opfer forderte.

Aber auch in Europa und der Sowjetunion sind die „Marxisten“ Lenin, Stalin, ihre Nachfolger und Statthalter für zehn bis 20 Millionen Todesopfer (Holodomor, Terror, Gulag) verantwortlich – die Konsequenzen des Hitler-Stalin-Paktes nicht eingerechnet. Dazu kommen noch die Niederschlagungen des Ungarn-Aufstandes und des Prager Frühlings usw. Davon liest man bei Oberkofler nichts. Dass auch Lenin „gerechte Kriege“ gelobt hat, fällt ebenfalls unter den Tisch.

Einer Schlussfolgerung ist dafür uneingeschränkt zuzustimmen: Dass der Oktoberputsch der Bolschewiken 1917, Pardon, die Große Sozialistische Oktoberrevolution, die „Möglichkeiten des Menschen“ offenbart hat: Möglichkeiten zur rücksichtslosen Durchsetzung von Diktatur, des Roten Terrors und der Ermordung von Millionen Andersdenkender oder auch nur vermeintlicher Gegner. Das ist sicher nicht Marx' Schuld. Aber die vieler, die sich als „Marxisten“ bezeichneten.

Wolfgang Mueller ist Universitätsprofessor für Russische Geschichte an der Uni Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.