Gastkommentar

Ist das sozialdemokratische Zeitalter am Ende?

Policy Mix: Mehr Sozialismus in Großbritannien, mehr Neoliberalismus in Frankreich. Eine Replik auf Peter Pelinka.

Peter Pelinka hat an dieser Stelle am 14. 6. die Frage gestellt, welche Lehren die Sozialdemokratie in Europa aus den Wahlen in Frankreich und Großbritannien ziehen könnte und dabei die Mechanismen, die in beiden Fällen zum Wahlsieg geführt haben, verglichen. Dieser Vergleich wurde aus der historischen Perspektive der Sozialdemokratie angestellt, und daraus wurde versucht, strategische Weichenstellungen für die Sozialdemokratie in der Zukunft abzuleiten.

An anderer Stelle des Pelinka-Kommentars wird mit Verweis auf ein Zitat die Hilflosigkeit der beiden großen politischen Bewegungen (Sozialdemokratie und Christdemokraten) vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts beschworen. Die fortwährenden Ansätze zur Erneuerung, Neudefinition etc. der Sozialdemokratie – besonders auch in Österreich - scheinen sehr stark vom Wunschdenken getragen zu sein und die harten Fakten der gesellschaftlichen Entwicklung zu ignorieren.

Zu Tode gesiegt?

Bereits 1983 (!) konstatierte Ralf Dahrendorf das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Wobei diese These besagt, dass sich sozialdemokratische Ideen nicht überlebt, sondern zu Tode gesiegt haben. Dadurch sind wir, wie Dahrendorf gemeint hat, „am Ende (fast) alle Sozialdemokraten geworden“. Das „fast“ bringt zum Ausdruck, dass es Teile der Welt gibt, in denen die Selbstverständlichkeit eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats nicht vorausgesetzt werden kann (USA) oder man nicht mehr so sehr an die Basis der liberalen Demokratie im Sinn der Aufklärung glaubt (Ungarn, Polen).

Die These beinhaltet aber auch, dass – wenn „alle Sozialdemokraten sind“ – eine Partei mit nur diesem Inhalt keine ausreichende Legitimation im Wettstreit der politischen Programme mehr hat. Je nachdem, was vorher da war, entsteht dann an dessen Stelle etwas Neues (Frankreich) oder nichts (USA).

Folgt man dieser These, dann ergibt sich eine andere Interpretation der Entwicklung der vergangenen zehn bis 15 Jahre und der Zukunftsperspektiven der Sozialdemokratie. Sie hat in der Vergangenheit – mit unterschiedlichem Erfolg – auf das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ reagiert. Der erste Schritt war z. B. die Sozialdemokratie Gerhard Schröders, die die Hartz-Reformen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, kombiniert mit einer Reform des Wohlfahrtsstaates, umgesetzt hat.

Auch die Sozialdemokratie Tony Blairs, die in Großbritannien die Liberalisierung und Deregulierung der Thatcher-Ära lediglich durch Investitionen in Infrastruktur und Bildung und Verteilungspolitik ergänzen wollte, ging in die gleiche Richtung. In Österreich erschöpfte man sich in der Erfindung des Schlagwortes von der „solidarischen Hochleistungsgesellschaft“.

Der politisch strategische Fehler war, dass sich diese Parteien weiterhin „sozialdemokratisch“ nannten. Dieser Widerspruch wurde – zu Recht – heftig kritisiert und hat auch den Rechtspopulisten – verkleidet als neue Arbeiterparteien – Auftrieb gegeben. Dieser Fehler wurde nun in Frankreich korrigiert, und aus Teilen der früheren sozialdemokratischen Partei wird eine echte Zentrumspartei.

Das scheint mir das Wesen der Bewegung La République en marche zu sein. Jedenfalls war es auf Basis dieser Neupositionierung in Frankreich möglich, den Rechtspopulisten energisch und selbstbewusst entgegenzutreten und sie in die Schranken zu weisen.

Auftrieb für Proeuropäer

Dabei spielt ein gewisser Auftrieb für proeuropäische Positionen, wie sie auch La République en marche vertritt, eine wesentliche Rolle. Dieser Auftrieb nährt sich an der Anschauung, dass eines der wenigen konkreten Projekte europäischer Populisten, nämlich der Brexit, gerade voll in die Hosen geht.

Corbyns Wahlerfolg, der in erster Linie eine Niederlage von Theresa May war, ist auch als Aufschrei der beim Brexit überstimmten, hauptsächlich jüngeren Bevölkerung zu erklären und mit berechtigten Anliegen zur Verteilungspolitik in einem Land, das diesen Bereich der Politik lang vernachlässigt hat.

Macrons Policy Mix

Wenn man also ein gemeinsames Element der Wahlerfolge von Macron und Corbyn festmachen wollte, ist es das folgende: eine Wende gegen den (Rechts-)Populismus und ein Verlangen nach einer gesellschaftlich ausgewogenen Politik (statt „One issue“-Politik, wie sie z. B. die Sozialdemokratie repräsentiert). Das bedeutet „mehr Sozialismus“ in Großbritannien und „mehr Neoliberalismus“ in Frankreich.

Das in Konturen sichtbar werdende Wirtschaftsprogramm Macrons inklusive der Reformvorschläge auf EU-Ebene entspricht ziemlich genau dem Policy Mix, der von Ökonomen seit Jahren zur Lösung verschiedener, miteinander verbundener Probleme in Europa vorgeschlagen wird, z. B. null Kündigungsschutz kombiniert mit extrem großzügiger Arbeitsmarktpolitik und negativer Einkommensteuer (Kombilohn), extrem flexible Arbeitszeitmodelle mit Zeitsouveränität auf beiden Seiten, niedrige Unternehmenssteuern und Lohnnebenkosten, höhere Ökosteuern, höhere Steuern auf Laster (Alkohol, Tabak, Glückspiel) und Steuern auf Finanztransaktionen und Vermögenszuwachs etc.

Die Grundidee all dieser Ansätze besteht darin, dass nur in dieser Kombination das Erreichen unterschiedlicher Ziele und damit der Interessenausgleich garantiert sind. Das ist auch eine Absage an populistische „Voodoo-Konzepte“ in der Wirtschaftspolitik, wie etwa die von Syriza in Griechenland vertretene, radikale Ablehnung der Austeritätspolitik und die in Österreich von der FPÖ vertretene radikale, sich selbst finanzierende Steuersenkung.

Stärkere EU-Koordination

Eine stärkere EU-Koordination in der Fiskalpolitik („EU-Finanzminister“) – wie von La République en marche vorgeschlagen – würde ebenfalls helfen, chronische Problemfelder der gemeinsamen Währung teilweise zu lösen.

Lässt sich daraus etwas für die österreichische Situation ableiten? Es sollte nicht verwundern, wenn der europaweite Gegenwind für die Rechtspopulisten demnächst auch in starken Verlusten der FPÖ in der Wählergunst ihren Niederschlag findet. Insofern wäre das Momentum für eine dezidiert proeuropäische Bewegung auch in Österreich gegeben.

Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass – wenn es nach der FPÖ gegangen wäre oder geht – Österreich 1995 nicht der EU beigetreten wäre und irgendwann ein Referendum über den Austritt folgen wird (Öxit). Ein Wirtschaftsprogramm der FPÖ soll es demnächst auch geben, bisher sind nur Steuersenkungsvorschläge ohne Gegenfinanzierung durchgesickert.

Eine sachorientierte Debatte auf Basis eines proeuropäischen Konzepts der Wirtschaftspolitik, das Liberalisierung und Deregulierung mit sozialer Absicherung verbindet, sollte jedenfalls eine Chance bekommen.

DER AUTOR

Dr. Kurt Kratena (* 1961 in Wien) studierte Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien (Doktorat 1988). Von 1993 bis 2015 war er Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo), 2008: Habilitation in Umweltökonomie. Seit 2015 leitet er das Centre of Economic Scenario Analysis And Research (Cesar) in Sevilla und ist Konsulent am Wifo.

E-Mails an:

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2017)

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