Gastkommentar

An Brüssels kurzer Leine?

Manchen Politikern in der EU soll es nicht gefallen, dass die FPÖ als Regierungspartei bald Zugriff auf Geldtöpfe haben wird.

Angesichts fortgeschrittener Koalitionsverhandlungen dürfte bald eine neue Bundesregierung bereitstehen. In der Öffentlichkeit mehren sich die Meinungen zur Qualifikation des neuen Regierungschefs: „Kann Kurz Kanzler? – Und falls ja, wie autoritär?“, erörtern Kommentatoren aller Couleurs die Leadership-Qualitäten von Sebastian Kurz.

Wenn es um dringliche Strukturreformen geht, sind Zweifel berechtigt, ob der 31-Jährige sich als künftiger Kanzler gegen selbstreferenzielle Machtblöcke in der eigenen Partei, gegen den EU-kritischen Koalitionspartner oder im politischen Kampf mit Regierungsgegnern und notorischen Reformbremsern durchsetzen kann.

Mehr noch zweifelt so mancher gelernte Österreicher, ob Kurz dem Reformdruck aus der EU zur Vertiefung der Integration standhält. Ginge es etwa nach dem Boulevardblatt Nummer eins, hätte ein Bundeskanzler auf dem Brüsseler Parkett quasi nur eine Aufgabe: daran festzuhalten, dass EU-Recht zwar schön und gut wäre, aber die politische Kultur hierzulande genau weiß, wie „flexibel“ Gesetze sein müssen.

So ist die Regierung mit der Umsetzung der Richtlinie für öffentliche Auftragsvergaben seit Jahren in Verzug. Es drohen empfindliche Geldbußen sowie eine Verurteilung Österreichs vor dem Europäischen Gerichtshof.

Spezifische „Wünsche“ an Wien

Wie von mehreren Medien berichtet wurde, gibt es aus der EU-Hauptstadt ein Schreiben an die Regierung mit spezifischen „Wünschen“ für Österreichs Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018. Womit EU-Politiker aber das größte Problem haben, ist die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen. Weniger wegen deren überholter Ideologie als vielmehr der pragmatischen Überlegung folgend, dass die FPÖ als Regierungspartei Zugriff auf beträchtliche Geldtöpfe haben wird.

Deswegen ist man in der EU-Kommission (informell) sehr daran interessiert, dass ÖVP-geführte Ministerien auf ihre blauen Pendants quasi aufpassen mögen. Also Spiegelministerien, wie zuletzt auch von Rot-Schwarz praktiziert, weil Kurz die angedachte Kanzler-Richtlinienkompetenz bei der FPÖ nicht durchgebracht hat.

Geht es nach dem reformeifrigen französischen Staatspräsidenten, Emmanuel Macron, dann sollen Parteien 2019 erstmals EU-weite Wahllisten erstellen, wenn das Europäische Parlament neu gewählt wird. Dementsprechend hoch ist das Interesse aller anderen Fraktionen in Brüssel, dass die mit rechtsnationalen Parteien „verpartnerte“ FPÖ in Österreich nicht unkontrolliert über beträchtliche ministerielle Mittel verfügen können solle.

0Losgelöst von speziellen Wünschen und berechtigten Sorgen in der EU wird sich Bundeskanzler Kurz aber weniger gegen Korruption oder Veruntreuung von Steuermitteln stemmen – wie dies Landes- und Bundesregierungen seit je und bis heute politisch verantworten. Vielmehr ist und bleibt dies Aufgabe der kritischen Öffentlichkeit in dieser Republik sowie einer auch am EU-Recht orientierten, unabhängigen Justiz.

Mag. Dr. Bernhard Martin (geboren 1966) ist freier Mediensoziologe in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2017)

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