Gastkommentar

Von der Tscheka zur „gelenkten Demokratie“

Vor 100 Jahren wurde der sowjetische Geheimdienst geschaffen. Russlands heutige Dienste sehen sich in seiner Tradition.

Am 20. Dezember begeht Russland den Tag des Mitarbeiters der Sicherheitsorgane. Es handelt sich dabei um jenen Tag im Jahre 1917, an dem der Rat der Volkskommissare, die damals erst seit wenigen Wochen amtierende erste Sowjetregierung unter dem Vorsitz von Wladimir Iljitsch Lenin, die Schaffung der sogenannten Außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage (russisch als Tscheka abgekürzt) beschloss.

Drei Monate später hatte die Tscheka 600 Mitarbeiter, Ende des Jahres 1918 schon 12.000 und 1921, gegen Ende des 1918 ausgebrochenen russischen Bürgerkrieges, einschließlich ihr unterstellter Sondertruppen fast 300.000.

Diese vom sehr bald gefürchteten Berufsrevolutionär Felix Dserschinskij („Eiserner Felix“) geleitete Behörde trug massiv zum Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg über ihre nationalistischen, monarchistischen und anarchistischen Gegner bei – und zwar auch und gerade dadurch, dass sie Zehntausende (angebliche und tatsächliche) „Klassenfeinde“, meist ohne jedes Gerichtsverfahren, tötete.

Geschichte und Tradition

Ab 1922 wurde die Staatssicherheit immer wieder umbenannt und umorganisiert, 1934 ging sie in einem neuen Volkskommissariat (d. h. Ministerium) für Innere Angelegenheiten auf. Nach mehreren weiteren Reformen entstand 1954 das Komitee für Staatssicherheit (KGB), das dann beim Zerfall der UdSSR Ende 1991 vom schon postsowjetischen Russland in verschiedene Behörden (darunter den – recht effektiven, wenngleich einer breiteren Öffentlichkeit in Westeuropa und Nordamerika unbekannten – Auslandsgeheimdienst SWR) aufgeteilt wurde.

Anfang 1992 richtete Russland ein Sicherheitsministerium ein, das man im Jahr darauf in den Föderalen Dienst für Spionageabwehr (FSK) überführte; 1995 erfolgte die Umbenennung in Föderaler Sicherheitsdienst (FSB). Der FSB stellt sich explizit in die Tradition der sowjetischen Geheimdienste. Alle offiziellen Darstellungen seiner Geschichte beginnen mit der Gründung der Tscheka vor nunmehr genau 100 Jahren, und auch die umgangssprachliche Bezeichnung „Tschekist“ für die Mitarbeiter der für die Staatssicherheit verantwortlichen Behörden blieb bis heute erhalten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise Aufarbeitung der Rolle der Staatssicherheitsorgane bei den Massenrepressionen nicht nur unter Diktator Josef Stalin (gestorben 1953) auf der Prioritätenliste der heutigen „intelligence community“ Russlands am unteren Ende rangieren.

Das große Dserschinskij-Denkmal auf dem Lubjanka-Platz im Zentrum von Moskau war nach einem gescheiterten Putschversuch von Altkommunisten (mit KGB-Chef Wladimir Krjutschkow als Mastermind) im August 1991 demontiert und in einen Park beim Zentralen Künstlerhaus gebracht worden. In unregelmäßigen Abständen flammen Debatten um eine Wiederaufstellung des Denkmals am alten Ort auf. Eine solche würde sich denn auch bruchlos in die Geschichtspolitik von Präsident Wladimir Putin mit ihrer Betonung eines „starken Staates“ einfügen.

Der dem Präsidenten Russlands direkt unterstellte FSB ist eines der wichtigsten Elemente der unter Putin (bekanntlich ein KGB-Offizier und von 1998/99 FSB-Chef) etablierten „gelenkten Demokratie“. Deren wichtigste Merkmale sind die Militarisierung der politischen Elite, Wahlen mit (meistens) vorbestimmtem Ausgang, gesteuerte Medien, eine Aushöhlung der Autonomie der Regionen sowie staatlich verordneter Nationalismus und Patriotismus. Die demokratische Opposition hat Putin schon zu Beginn seiner seit 1999 währenden Herrschaft marginalisiert.

Sicherung des Regimes

Die Sicherung des gegenwärtigen Regimes vor Sturz oder Abwahl ist die zentrale Aufgabe des FSB, die dieser auch sehr gewissenhaft erledigt: Weder Sturz noch Abwahl sind eine Angelegenheit der überschaubaren Zukunft, fehlen doch politisch-ideologische „Brüche“ in der Elite, und eine Gegenelite zeichnet sich nicht einmal am Horizont ab.

Der FSB kann und will sich nicht von der durch die Opritschnina von Zar Iwan IV. im 16. Jahrhundert begründeten Tradition lösen, ständig Verschwörungen „aufdecken“ zu müssen, die meist nur in der Vorstellung der Dienste (oder ihrer Leiter) existieren. Die folgenschwersten Folgen hatte diese Mentalität freilich in der Stalinzeit, als dieser Praxis Millionen zum Opfer fielen.

Unter Putin (und zwar keineswegs nur unter Oppositionellen) tauchte der Begriff „rechtgläubiger (d. h. russisch-orthodoxer) Tschekist“ auf, der frühere Mitarbeiter sowjetischer sowie frühere und aktive Mitarbeiter postsowjetischer russländischer Geheimdienste meint, die sich seit 1991 dem Marxismus-Leninismus ab- und der russisch-orthodoxen Kirche zugewandt haben.

Im Dienst Gottes und des KGB

Diese Wortkombination ist bereits aus historischen Gründen höchst eigentümlich, hatte doch die Tscheka ebenso wie alle ihre omnipräsenten Nachfolgeorganisationen jegliche unabhängige Regung der Religionsgemeinschaften (d. h. nicht nur der Kirche) bekämpft und ihre Tätigkeit stark erschwert bis praktisch unmöglich gemacht.

In kommunistischer Zeit saßen KGB-Zuträger in der Kirchenhierarchie auf zentralen Posten. Auch die beiden bisher letzten postsowjetischen Patriarchen (Oberhäupter) der orthodoxen Kirche, Alexij II. (1990–2008) und Kirill (seit 2009), sollen russischen Presseberichten zufolge eng mit dem KGB kooperiert haben, was ihnen in postsowjetischer Zeit aber nicht erkennbar schadete.

Die deutsche Osteuropahistorikerin Anna Veronika Wendland ging Anfang 2015 überhaupt so weit zu urteilen, dass sich die gegenwärtige „Staatsorthodoxie Russlands in ehemalige und aktive Geheimdienstmitarbeiter“ aufteile.

Es ist jedenfalls nicht verwunderlich, dass die Kirche zusammen mit dem FSB (und anderen Sicherheitsorganen) zu den wichtigsten Säulen des „Systems Putin“ gehört. Zusammengehalten wird diese beiderseitig vorteilhafte Allianz auch und gerade durch übereinstimmende Perzeptionen von Freund (China, Iran, Assads Syrien, Hisbollah usw.) und Feind (Nato, USA, „Westen“ generell).

Gesetzestreue Geheimdienstler

In Westeuropa mögen alle diese Vorgänge, soweit man sich dafür überhaupt interessiert, erstaunlich oder ungewöhnlich anmuten. In Russlands öffentlicher Meinung hingegen genießen die Geheimdienste – wie das gesamte von ihnen aufrechterhaltene politische System – überwiegend Unterstützung. Und Putin kann sich weiter über westliche Gesprächspartner lustig machen (was diese oft gar nicht bemerken). So meinte er in einem Interview mit dem US-Regisseur Oliver Stone unter Hinweis auf den Whistleblower Edward Snowden, dass sich die russischen Geheimdienste – im Unterschied zu den amerikanischen – immer streng an das Gesetz halten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Martin Malek
(geboren 1965 in Stockerau) studierte Politikwissenschaft, Publizistik/Kommunikationswissenschaft und Volkswirtschaft in Wien und Moskau. Sein Arbeits- und Forschungsschwerpunkt sind die Nachfolgerepubliken der Sowjetunion. Mehrere Forschungsaufenthalte im Ausland und zahlreiche Publikationen. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.