Gastkommentar

Die mythische Verklärung des Wladimir Putin

In Russland hat bereits seit 18 Jahren derselbe Mann das Sagen. Am Sonntag wird er erneut für sechs Jahre gewählt werden.

Es sind mittlerweile 18 Jahre vergangen, seit am 26. März 2000 Wladimir Putin zum ersten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt wurde. Damals, als die russischen Medien – jedenfalls im Vergleich zu heute – „bunt“ und frei waren, stieß er auf aufrichtige öffentliche Aufmerksamkeit und Neugier.

Viele rätselten, wer der klein gewachsene, aber sportlich und vital aussehende Mann, der bis zum Sommer 1999 den Föderalen Sicherheitsdienst (FSB), einen der Nachfolgedienste des berüchtigten sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (KGB), geleitet hatte, in Wirklichkeit sei. Der Satz „Who is Mister Putin?“ wurde rasch populär. Zu seiner Person wie auch zu seiner politischen Gesinnung gab es kaum Informationen – nur, dass er von seinem Vorgänger, dem ersten Präsidenten des postsowjetischen Russlands, dem korpulenten und nicht immer ganz nüchternen Boris Jelzin, persönlich ausgewählt worden sei, die Führung Russlands auf dem steinigen Weg der postsowjetischen Transformation zu übernehmen.

Russland = Putin?

Inzwischen ist eine ganze Generation herangewachsen, die Russland ohne Putin gar nicht kennt. Die Erinnerungen an die Zeit „vor Putin“ verblassen immer stärker und werden durch Berichte in den Medien ersetzt, die immer neuen Platz gewinnen, um den Menschen eine ganz spezifische Darstellung zeitgeschichtlicher Ereignisse zu vermitteln. Die Geschichte von Gorbatschows Perestrojka und den versuchten demokratischen Reformen unter Jelzin wird weitgehend ausgeblendet.

Die zentralen Narrative, die inzwischen übrigens weit über Russland hinaus Wirkung entfalten, lauten zusammengefasst: Der Zerfall der UdSSR 1991 war „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (so Putin 2005); im folgenden Jahrzehnt habe in Russland „Chaos“ geherrscht; es habe ungeeignete westliche Demokratiemodelle übernehmen „müssen“; es sei dadurch außenpolitisch „erniedrigt“ gewesen usw. Doch dank Putin klappe es auch ohne einer von außen oktroyierten Demokratisierung. Putin habe das Land „stabilisiert“, 2014 die ukrainische Halbinsel Krim „heimgeholt“ und Russland international wieder zu einer gefürchteten und selbstbewussten Großmacht gemacht.

Die am Sonntag anstehende Präsidentenwahl ruft insofern kaum Neugier hervor, als niemand an der Bestätigung (um den Begriff „Wiederwahl“ bewusst zu vermeiden) des Amtsinhabers zweifelt. Dennoch ist ein eigenartig ambivalentes Stimmungsbild unverkennbar: Noch nie stand Putin so alternativlos da wie jetzt – und noch nie knüpfte man so wenige Hoffnungen an ihn.

Trotz seiner hohen Zustimmung, die Schätzungen zufolge bei 80 Prozent liegt, können die Menschen, gefragt nach seiner Politik und seinem Programm, meistens nichts antworten. Die beiden wichtigsten seiner ursprünglichen Versprechen – internationale Einbindung Russlands und wirtschaftliche Prosperität –, die weitgehend auch seine hohe Popularität begründeten, entpuppen sich zunehmend als großes Fiasko.

Russlands Außenbeziehungen sind so schlecht wie nie seit 1991. Das liegt auch und gerade am geheimnisumwitterten Tod mehrerer russischer Bürger, die der Kreml als Feinde perzipiert hatte, insbesondere in Großbritannien seit 2006; den russischen Militärinterventionen gegen Georgien (2008) und gegen die Ukraine (seit 2014) sowie in Syrien (seit 2015); der enormen Aufrüstung der Streitkräfte; der ständigen Drohrhetorik; der Unterstützung für rechts- und linksradikale EU-Skeptiker und -Gegner durch direkte finanzielle Gaben sowie die massenhafte Verbreitung von Fake News“; und auch durch die ganze Reihe an Dopingskandalen um russische Sportler, die die direkte Involvierung des russischen Staates in den Dopingbetrug aufgedeckt haben.

Von Korruption zerfressen

Gleichzeitig ist die Wirtschaft Russlands anhaltend schwach und ineffektiv. Während die Militärausgaben steigen, stagnieren oder sinken die Aufwendungen für Gesundheit, Soziales, das Bildungswesen usw.

Die Zahl der Dollarmilliardäre hat sich unter Putin stark erhöht (inzwischen sind es ca. 100), während die Reallöhne der Gesamtbevölkerung sinken. Die Kapitalflucht aus Russland ist anhaltend gewaltig (nach offiziellen Angaben über 31 Milliarden Dollar allein 2017). Russlands Export hängt auch nach 18 Jahren Putin massiv von den Weltmarktpreisen für Erdöl und Erdgas ab.

Die Modernisierung der Wirtschaft und der Infrastruktur kommt nur schleppend voran, was vor allem an der omnipräsenten Korruption liegt, die zu bekämpfen Putin immer wieder versprochen hat, die aber längst systemimmanentes Merkmal auf allen Ebenen von Staatsverwaltung und Bürokratie geworden ist.

Simulierte Politik

Mit besonders hohen Summen hantieren naturgemäß Politiker, Industrielle usw., die Putin nahestehen. Im letzten Corruption Perception Index der NGO Transparancy International erreicht Russland unter 180 Ländern den 135. Platz (zum Vergleich: Neuseeland 1.; Österreich 16.).

Die französische Historikerin Françoise Thom wies in diesem Kontext auf die Aushöhlung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des Staates hin: Dieser sei in Russland nicht willens, den Bürgern die Wahrung der Grundrechte zu garantieren, womit Vertrags- und Eigentumsverhältnisse vor der Willkür der unersättlichen Staatsbürokratie nicht geschützt seien.

Soziologisch betrachtet zählt zu den gravierendsten Ergebnissen der vergangenen 18 Jahre die Etablierung und bewusste Einsetzung von zahlreichen Imitationen. So sind Parlament, Justiz und Medien nur noch Marionetten von Putins Präsidialadministration. Eine politische Öffentlichkeit, die Opposition, Konkurrenz bei den Wahlen, ja die Politik als solche werden überwiegend simuliert und die so wichtigen Begriffe hiermit ausgehöhlt und ihrer Bedeutung entkleidet.

So ist auch das Feld des Politischen in der Wahrnehmung der Bevölkerung grundsätzlich kein Ort für Überraschungen oder Alternativen: Solche würden nur die Stabilität und Einheit Russlands gefährden. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, dass auch das Amt des Präsidenten zunehmend der Imitationslogik verfällt: Putin entrückt immer mehr in Richtung einer mythischen Gestalt, die zwar mit der „Stärke Russlands“ in eins gesetzt wird, dabei aber immer weniger mit der Lösung der konkreten Probleme des Alltagslebens der Menschen zu tun hat.

Ängste und Kränkungen

Putin stand und steht für das Versprechen, die aus der sowjetischen Vergangenheit geerbten Ängste und Kränkungen zu überwinden. Dafür hat er ein solides Potjomkinsches Dorf aufgebaut, von dem sich nicht wenige Politiker und Medienvertreter im Westen blenden lassen. Ein Russland ohne Putin aber wird sich dann diesen Ängsten und Kränkungen erneut stellen müssen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN

Anna Schor- Tschudnowskaja (*1974 in Kiew) ist Soziologin und Psychologin. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Sie ist Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Zahlreiche Publikationen, zuletzt Mitherausgeberin des Sammelbandes „Der Zerfall der Sowjetunion“ (Nomos-Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2018)

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