Gastkommentar

Die EU muss aufhören, den Illiberalismus zu vergüten

Die Regierungen Polens und Ungarns sind nur zu gern bereit, das Geld der EU zu nehmen, ihre Werte aber zurückzuweisen.

Seit der Erweiterung der Europäischen Union im Jahre 2004, als viele der ehemaligen kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas aufgenommen wurden, ist der Mechanismus der EU zur Förderung der Regionen stark darauf ausgelegt, die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten zu mindern.

Die Überwindung der Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und die Verbesserung der Handels-, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur innerhalb des Staatenblocks gelten dabei seit Langem als unverzichtbar, um Kohäsion innerhalb der EU sicherzustellen.

Tatsächlich ist die Kohäsionspolitik der EU ihre sichtbarste Initiative. Die im Rahmen dieses Fonds getätigten Investitionen fördern die regionale Entwicklung, unterstützen Innovationen, verbessern die Bildung, weiten die Digitalisierung und die Verkehrsnetze aus und finanzieren Programme, die durch Ankurbelung von Wachstum, Produktivität und Spezialisierung den Binnenmarkt stärken. Von der Kohäsionspolitik profitieren Bürger, Kommunen und Unternehmen überall in der EU, insbesondere jedoch in den neueren Mitgliedstaaten.

77 Milliarden Euro für Polen

Der Haushalt des Kohäsionsfonds für die nächsten sieben Jahre betrifft den Zeitraum von 2020 bis 2027 – und die Europäische Kommission hat in dieser Woche Vorschläge vorgelegt, wie das Geld aufgeteilt werden soll. Erbitterte Verhandlungen über diese Vorschläge werden folgen.

In den vergangenen Jahren haben sich verschiedene neue Prioritäten ergeben – nicht zuletzt die Notwendigkeit eines verstärkten Schutzes der Grenzen, eines Systems zur Steuerung der Migration und zusätzlicher gemeinsamer Verteidigungsprojekte. Was die Lage noch weiter kompliziert, ist, dass die Führung der EU hofft, ihre Ausgaben auch nach Austritt Großbritanniens im kommenden Frühjahr auf dem gegenwärtigen Niveau beibehalten zu können. Und nachdem die Ausgabeprioritäten vereinbart sind, muss das Europäische Parlament den fertigen Haushalt noch genehmigen.

Doch die vielleicht wichtigste politische Entwicklung seit den letzten Haushaltsverhandlungen im Jahr 2014 – wichtiger als der Zustrom an Flüchtlingen oder der Brexit – ist die Etablierung von illiberalen, rechtspopulistischen Regierungen in Ungarn und Polen.

Im Rahmen des Kohäsionshaushalts der Jahre 2014 bis 2020, der sich auf insgesamt mehr als 350 Milliarden Euro belief, erhielten Polen 77 Milliarden und Ungarn 22 Milliarden Euro; Dies macht Polen zum größten beziehungsweise Ungarn zum viertgrößten Nutznießer von EU-Geldern. Und die Nettozahler – wie Deutschland, Frankreich und, nicht zu vergessen, Großbritannien – subventionieren diese Großzügigkeit stark.

Und doch sind Polens und Ungarns dem Autoritarismus zuneigende Regierungen – statt sich die Werte zu eigen zu machen, die diese Großzügigkeit inspiriert haben – aktiv dabei, in ihren Ländern den Rechtsstaat auszuhöhlen und ihre Rechtssysteme zu demontieren. Würden Polen oder Ungarn heute einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellen, er würde abgelehnt werden.

Beide Regierungen gehen hart gegen Nichtregierungsorganisationen vor und haben die Medien des Landes ins Visier genommen oder vereinnahmt. In den Überresten der freien Presse Ungarns findet man manchmal trotzdem noch glaubwürdige Berichte, in denen der Vorwurf erhoben wird, dass Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Spießgesellen die EU-Mittel zum eigenen Nutzen und dem ihrer Familien und Geschäftspartner plündern.

EU-Betrugsbehörde ermittelt

Tatsächlich war die Regierung von Viktor Orbán bereits Gegenstand einer Anzahl von Untersuchungen durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung.

Trotz seines Verhaltens wurde Orbán im April wiedergewählt, und seine Fidesz-Partei hat nun gemeinsam mit den Christdemokraten erneut eine Zweidrittelmehrheit im Parlament in Budapest – was ausreicht, um die Verfassung zu ändern.

Im Wahlkampf hat Orbáns Regierung das Land mit fremdenfeindlicher, antisemitischer Propaganda überflutet. Laut Wahlbeobachtern von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa war die Abstimmung „durch eine allgegenwärtige Überlappung zwischen den Ressourcen des Staates und der herrschenden Partei gekennzeichnet, was die Fähigkeit der Wettbewerber untergrub, miteinander auf gleicher Basis zu konkurrieren“.

Polens regierende Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist ihrerseits derzeit Gegenstand einer Untersuchung durch die Europäische Kommission wegen fortlaufender Verstöße gegen die rechtsstaatlichen Normen der Europäischen Union und Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit.

Neues Vergabeverfahren

Es ist nicht hinnehmbar, dass das Geld der EU-Steuerzahler zweckentfremdet wird, um Projekte zur Bestätigung der Eitelkeiten illiberaler Eliten in Budapest, Warschau oder wo auch immer zu finanzieren – Eliten, die keine Hemmungen zeigen, die demokratischen Institutionen zu untergraben, die die EU zu dem machen, was sie ist.

Es ist daher enorm wichtig, dass Mittel des Kohäsionsfonds ab 2020 unter der Voraussetzung verteilt werden, dass die empfangenden Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalten und durchsetzen.

Zu diesem Zweck sollte die EU ein objektives Verfahren einführen, um die Einhaltung der Regeln zu überwachen und Gelder gegebenenfalls einzufrieren. Falls etwa in Bezug auf einen Mitgliedstaat ein Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union ausgelöst wird, sollten alle diesem Land zugedachten Gelder einem Rücklagenfonds zugeführt werden. Und bis das Verfahren nach Artikel 7 ausgesetzt oder eingestellt wird, sollten diese Gelder umgeleitet und zur Unterstützung von Universitäten, Forschungseinrichtungen und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen in dem betreffenden Land verwandt werden.

Verachtung hat ihren Preis

Dieser Ansatz würde den Bürgern der vom Weg abgekommenen Länder zeigen, dass die EU sie nicht für das Verhalten ihrer Regierungen bestrafen will. Und er würde diesen Regierungen einen deutlich stärkeren Anreiz bieten, die EU-Regeln einzuhalten und die gemeinsamen Werte aufrechtzuerhalten, die dem gemeinsamen Markt gestatten, ordnungsgemäß zu funktionieren.

Die traurige Wahrheit ist, dass illiberale Regierungen wie jene, die derzeit in Polen und Ungarn an der Macht sind, nur zu gern bereit sind, das Geld der EU zu nehmen, zugleich jedoch ihre Werte zurückzuweisen. Es ist Zeit zu zeigen, dass Verachtung für die Normen der EU ihren Preis hat.

Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 2018.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Guy Verhofstadt (* 1953 in Dendermonde) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Gent. Er gehört der Partei der Flämischen Liberalen und Demokraten an und war von 1999 bis 2008 belgischer Ministerpräsident. Er war Präsident der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (Alde) im Europaparlament. Er ist Chefunterhändler des EU-Parlaments für die Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich (Brexit).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2018)

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