Warum Streit sein muss

(c) Peter Kufner
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Debatte und Streit haben einen schlechten Ruf, in Büro und Familie genauso wie in der Politik. Ein Plädoyer für Meinungsunterschiede und den gepflegten Streit.

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Stellen wir uns vor, eine Frau kommt aus der Arbeit und sagt zu dem Menschen, mit dem sie lebt: „Wahnsinn, also ich hatte heute so einen großartigen Streit in der Arbeit, hat sich richtig gelohnt. Das muss ich dir erzählen!“ Oder: Ein Mann blickt von seinem Handy auf, nachdem er sich eine Stunde lang auf Twitter darüber gestritten hat, ob die Europäische Union ohne eigenes Militär eine Zukunft hat, und fühlt sich nicht einfach nur erschöpft, sondern ganz zufrieden. Stellen wir uns eine politische Talkshow vor, nach der die Zuschauer ausschalten und mehr wissen als vorher. Oder: Bei einer Podiumsdiskussion sondern die Teilnehmer nicht wie sonst ihre erwartbaren Statements ab, sie hören einander zu und widersprechen sich dann Punkt für Punkt oder lassen sich sogar vom anderen überzeugen, und am Ende fühlen sich alle Anwesenden ein wenig klüger.

Stellen wir uns ein Familienessen vor, bei dem der Vater über die Russland-Berichterstattung schimpft, der Sohn die Putin-Verharmlosung ablehnt und die Mutter nicht: „Könnt ihr bitte damit aufhören, wir wollten es doch heute schön haben“, seufzt, sondern alle gemeinsam ihre Flasche Wein austrinken und am Ende des Abends entspannt auseinandergehen, zufrieden in dem Wissen, dass sie überhaupt nicht einer Meinung sind und trotzdem fraglos zueinander gehören.

Einfach tun, wie essen, plaudern, Sex haben

Stellen wir uns also ein Leben vor, in dem streiten etwas ist, das wir einfach tun. Mal aus Notwendigkeit, mal aus Lust, mal aus sozialer Verpflichtung. So wie essen, plaudern, Sex haben, einkaufen, putzen, spielen, lesen, Auto fahren, schreiben oder arbeiten. Etwas, das vorkommt, das sein muss. Etwas, das Spaß machen kann oder auch nicht. Eine Aufgabe, die uns nicht aus dem Gleichgewicht bringt, sondern der wir uns stellen, wie wir einen Urlaub organisieren, unseren Job erledigen, ein Kind versorgen.

Stellen wir uns also den Streit als eine Tätigkeit vor wie viele andere: teils Bedürfnis, teils Instinkt, teils erlernte Kompetenz. Wäre das nicht etwas?

Die Realität sieht, wie wir wissen, anders aus: Ärger am Arbeitsplatz gehört zu den größten Stressfaktoren des modernen Menschen. Twitter-Diskussionen jagen den Puls in die Höhe. Talkshows geben ihren Zuschauern selten mehr als Frustgefühle. Und am allermeisten schmerzt der Familiendisput.

Alles, was wir heute als Streit kennen, verwirrt. Die meisten Menschen finden ihn anstrengend, er macht sie nervös und traurig, lässt sie an der Vernunft anderer zweifeln und manchmal auch an sich selbst. Streit ist etwas, was die meisten von uns irgendwie hinter sich bringen, ohne recht zu wissen, wofür es wirklich gut sein soll.

Man wurstelt sich irgendwie durch, wenn es eben sein muss, oft genug mit nur einem Ziel: da so wenig beschädigt wie möglich wieder herauszukommen.

Am Umgang mit Konflikten zeigen sich einige der größten Widersprüche unserer Zeit: Unsere Arbeits- und Alltagskultur fordert und fördert Effizienz, Reibungslosigkeit und Harmonisierung. Konflikte wollen wir heute lieber wegmanagen als ausfechten. Moderne Unternehmen verordnen sich selbst regelmäßig Mediationen und Sitzungen mit dem Konflikt-Coach; politischer Gruppenzorn gilt in liberalen Kreisen als reaktionär und potenziell gefährlich; im Alltag sorgen alle möglichen Apps, Dienstleister und Kommunikationsgeräte dafür, dass Menschen sich möglichst konfliktfrei durch ihre Arbeits-, Freizeit- und Konsumwelten bewegen.

Die Öffentlichkeits- und Debattenkultur fetischisiert wiederum den Konflikt. Das politische Geschehen und die öffentlichen Debatten sind von der Logik des Gegeneinanders geprägt: Streit ist der Standardmodus der Auseinandersetzung. Gleichzeitig gilt er aber auch als Ärgernis.

Wir können Streit nicht leiden

Wenn es zwischen den Parteien gegeneinander geht, heißt es sogleich, die „Parteien sind zerstritten“, die Politik beschäftige sich nur noch mit sich. Wird innerhalb von Parteien gestritten, geraten sie schnell unter Dysfunktionalitätsverdacht. Gleichzeitig sollten sich Parteien bloß nicht alle auf ein gemeinsames Ziel einigen: Dann unken die Beobachter von Beliebigkeit und Ununterscheidbarkeit und dem zwangsläufigen Erfolg der Rechtspopulisten.

Streit ist also etwas, das wir einerseits in allen Beziehungen erwarten und mit Spannung beobachten – aber eben auch überhaupt nicht leiden können.

Anders als noch vor ein paar Jahren schrumpfen die Spielräume für Leute, die sich lieber aus allem heraushalten oder sich mit ihrer Meinungsbildung Zeit lassen.

Diese Entwicklung ist in Deutschland vor allem seit dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise auffällig. Seitdem diskutiert und streitet die Öffentlichkeit praktisch pausenlos über alles Mögliche: Über Obergrenzen und Abschiebeverfahren, über Gewalt und Vorurteile, über die Zukunft der Europäischen Union und die Frage, wie viel „Heimat“ ein Land braucht. Aber auch bei Themen, die mit Migration nichts zu tun haben – Gleichberechtigung, Mietmärkte, irritierende Gedichte an Hauswänden –, scheinen die Ängste immer größer zu werden, der Tonfall wird immer erregter und die Bandagen werden härter. Das ist auch nicht ganz verwunderlich – schließlich geht es um den Umgang mit Menschen, die aus der Not fliehen. Es geht darum, welches Selbstbild eine Gesellschaft hat und ob es kohärent ist. Und bei all diesen Grundsatzdebatten stellt sich immer wieder eine Frage, die für den Verlauf und das Ergebnis eines Streits elementar ist, eine Frage, die an den Kern der Demokratie rührt: Was ist der Streit eigentlich wert?

Viel zu oft streiten wir, als wäre „Nicht viel“ die Antwort darauf. Streit gilt als Schreckgespenst des Miteinanders, als lästige Bürde, als etwas, bei dem es nur zwei Verhaltensoptionen zu geben scheint: das widerwillige Einknicken vor der Gegenposition oder die absolute Eskalation. Das zeigt sich vor allem in privaten Konflikten: Viele Menschen vermeiden sie aus Harmoniebedürfnis, so gut es geht, und wenn nicht, verhalten sie sich oft unbeholfen bis destruktiv. Die sozialen Medien, deren Siegeszug vor zehn Jahren mit dem Versprechen begann, uns alle einander näherzubringen, sind heute der Beweis dafür, dass die Kombination aus digitaler Nähe und räumlichem Abstand ein mindestens so schwerer Fluch ist, wie sie natürlich auch Segen sein kann: Hier werden Meinungsverschiedenheiten zu oft in sinnlose Provokationen verpackt, und manchmal eskalieren sie auch zu sogenannten Shitstorms. Bei Teilnehmern und Beobachtern steigt so stetig der Pegel innerer Unruhe und manchmal auch echter Angst.

Das Problem ist also: Wir müssten streiten. Eigentlich dauernd. Wir können es aber nicht gut. Und das ist schade. Denn wir verpassen damit die Chance, Streit als das zu erleben, was er auch sein kann: ein schöner und spannender Zeitvertreib, bei dem man nicht nur seinen Gesprächspartner, sondern auch sich selbst deutlich besser kennenlernt.

DIE AUTORIN

Meredith Haaf, * 1983, ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Geschichte und Philosophie, arbeitete u. a. für „FAZ“, „Spiegel online“, „Nido“ und „Neon“ und schreibt heute für das Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Der Text ist eine gekürzte Passage aus dem Vorwort ihres neuen Buches „Streit! Eine Aufforderung“ (DTV, 290 Seiten).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2019)

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