Wo bleibt das Schuldbewusstsein von Kurz, SPÖ und Co.?

Nachsitzen sollte das ganze Hohe Haus. Überlegen, was falsch gelaufen ist.

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Genug ist genug. Und sie ist mehr als genug, diese Streiterei, von der uns versprochen wurde, sie mit neuem Stil beenden zu wollen, wie Strache und Gudenus sich selbst. Krisen können Menschen zusammenführen oder sie noch weiter trennen.

Es war erschütternd, als wir am Samstag alle vor dem Fernseher saßen, um auf ein Statement des Kanzlers zu warten, und stattdessen wurde uns kurz vor 20 Uhr ein Wahlkampfauftakt präsentiert, der sich gewaschen hatte. Eine ichbezogene, massiv berechnende Rede, so frei von der für diese Situation nötigen Einsicht und Herzenswärme. Keine staatstragende Ansprache, nichts Verbindendes, wie es unserem Präsidenten später gelungen ist, sondern eine Streitansage, endend mit der Bitte um Unterstützung bei den nächsten Urnengängen. Welche Ratgeber stecken dahinter? Welche Auffassung von Politik? Wer schreibt so etwas?

Dieser demaskierende Moment hat an einem Wochenende der Fassungslosigkeit noch weiter fassungslos werden lassen. Andere zum Streiten anstacheln, aber wenn dann der Streit ausbricht, sich auf einen neuen Stil berufen! Das geht gar nicht. Und so bitter es ist, diese anderen lassen sich auch munter provozieren, als hätten sie nur darauf gewartet. Laufen ins offene Messer. Und ich frage mich: Wollen wir das? Ist genug nicht wirklich mehr als genug? Wo ist das Schuldbewusstsein des Kanzlers, der Türkisen, die uns verkaufen, sie hätten mit der Krise nichts zu tun, und die die letzten Monate hindurch schon reihenweise Gründe geliefert bekamen, die längst fällige Reißleine für diese Schande ziehen zu können? Wo ist das Schuldbewusstsein der Roten, die völlig darauf vergessen, wie gewaltig ihr eigener Beitrag für diese Mehrheit aus Schwarz-Blau war und ist? Auch den Grünen und deren Selbstzerfleischungsakt vor der letzten Wahl ist die Mitverantwortung für den Zustand heute nicht abzusprechen. Und wer glaubt, die FPÖ wäre nun erledigt, wird sich noch wundern.

Jetzt muss eine Regierung her, die völlig frei ist von alledem. Und welch unglaubliche, nie dagewesene Chance wäre das? Kein Versagen, sondern ein Gewinn an Kultur. Ein reines Expertenkabinett unter der Obhut unseres Bundespräsidenten. Wozu sich deshalb Sorgen machen? Schließlich wird dieses Land von keiner Regierung getragen, keinem Kanzler, keinen Ministern, sie alle sind nur Dienende. Dieses Land tragen die Menschen selbst, die Früh- und die Spätaufsteher, die Tag- und die Nachtschicht, der gut eingespielte Verwaltungsapparat, das verlässliche Miteinander in den Gemeinden, Ländern. Und sie tragen es seit Jahren und ertragen das traurige Spiel auf ihre Kosten. Nicht der Kanzler hat irgendetwas ertragen müssen, sondern wir. Eine Regierungspartei, die jetzt in dieser Übergangsphase nur weiter ihr eigenes Kalkül verfolgt, das macht Sorge. Und seit der Samstagsrede ist nichts anderes zu erwarten.

Wieder eintreten in die Reihen der Abgeordneten, das ist nun angesagt, auf dass die handelnden Damen und Herren in aller Ruhe ein wenig in sich gehen können hinsichtlich der Frage, wie es nicht mit ihnen selbst, sondern mit diesem Land weitergehen soll. Nachsitzen. Das ganze Hohe Haus. Überlegen, was falsch gelaufen ist. Befreit vom Regieren-Dürfen endlich wieder Reagieren-Können, ausführlich Zusammenreden mit allen anderen, ohne Ablenkung, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne große Selbstdarstellung, ohne Show, und dabei vielleicht sogar für ein paar Atemzüge aufs Taktieren vergessen. Das bringt uns vielleicht langfristig Stabilität. Denn es gibt keine dringendere Reform, als die Neujustierung des Miteinanders aller handelnden Personen im Parlament. Diese Damen und Herren nämlich werden diesem Land erhalten bleiben, um es weiter zu formen.

Thomas Raab (* 1970) ist ein österreichischer Schriftsteller und wurde bekannt durch seine Krimis um Restaurator Metzger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2019)

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