Heraus aus der Sackgasse in der EU-Industriepolitik

(c) Peter Kufner
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Ursula von der Leyen muss eine frische Strategie forcieren; eine neue Industriepolitik sollte dabei ein zentraler Pfeiler sein.

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Die neue EU-Kommission hat viele Aufgaben. Eine der wichtigsten wäre es, die europäische Industriepolitik neu aufzustellen. Der Europäische Rat hat Ende Mai gefordert, eine visionäre Industriepolitik zu entwickeln, doch das bisherige Ergebnis waren nur alte Stehsätze. Gut, dass es eine neue Kommission und eine neue Chefin gibt.

Europa hat eine starke Industrie, doch sinkt ihr Anteil gerade bei den „Schwergewichten“ Frankreich und Großbritannien auf weniger als zehn Prozent. Im Industrieland Italien hat der Anteil sich halbiert. Nur Deutschland, Österreich und Irland können dem Abwärtstrend widerstehen.

Für Österreich hat die Osterweiterung aus mittleren Unternehmen Konzerne gemacht. Deutschland erzielt hohe Exportüberschüsse, auch weil es seine Autoindustrie mit Interventionen in Brüssel und durch Wegschauen bei Kontrollmessungen begünstigt. Die fehlerhafte Kontrolle beim Diesel allein verursacht nach einer neuen Studie 5000 Tote pro Jahr. Sie ist also nicht nur ein „technischer Fehler“, sondern ein gesellschaftliches Problem. Europa kann den Trend zum Elektroauto bisher nicht nutzen, da es keine europäische Batterieproduktion gibt.

Zu geringe Forschungsquoten

Osteuropa konnte seine Produktion erfolgreich auf Zulieferungen umstellen, aber mit großen regionalen Unterschieden und geringem Eigenbeitrag einer mittelständischen Industrie. Dies hat zu Abwanderung und großer Unzufriedenheit in etlichen Regionen geführt und letztlich auch zur „illiberalen“ Demokratie.

Die Alterung der Bevölkerung öffnet im westlichen Europa eine Facharbeiterlücke. Die Lissabonstrategie und „Europa 2020“ hatten das Ziel, die Forschungsquoten von zwei auf drei Prozent zu erhöhen, 20 Jahre später aber liegt diese kaum über zwei Prozent und ist damit niedriger als in den USA und nun auch in China. In Frankreich, einem Land sektoraler Industriepolitik mit hohem Anteil an Militär-, Flug- und Weltraumtechnik, in Italien und Großbritannien liegt sie deutlich unter zwei Prozent.

Es fehlt nicht an Versuchen, die Industriepolitik zu modernisieren. Eine „Strategiebesprechung“ der EU-Bürokratie jagt die andere. Gibt es einen Schritt nach vorne, folgt einer zurück – besonders dann, wenn Italien und Deutschland die Industriepolitik bestimmen. Der Versuch, „Nachhaltigkeit“ an die Spitze zu stellen, ist schnell wieder dem kraftlosen Nebeneinander der Ziele gewichen.

Defizitäre Atomkraftwerke ohne gesicherte Endlagerung werden subventioniert, ebenso großflächige Agrarbetriebe, deren Überschüsse den Aufbau einer funktionierenden Landwirtschaft in Afrika behindern.
In Deutschland versuchen der Experte Peter Bofinger und Wirtschaftsminister Peter Altmaier einen kraftvolleren Ansatz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erkennt die Schwäche seiner Industrie und versucht die alte Achse mit Deutschland in einem „Manifesto“ zu nutzen. Nur, da darf nichts über Steuerpolitik oder das Ende von Atomkraft oder Kohle stehen. Und Macron wird durch hohe Verschuldung und Außendefizite, Gelbe Westen und elitäre, nur französisch sprechende „Old-Boys-Netzwerke“ bei seinen Reformansätzen gehemmt.

Es wird Aufgabe der neuen Kommission sein, die EU aus dieser Sackgasse herauszuführen. Wahrscheinlich sollte eine neue Industriekommissarin aus einem der erfolgreichen kleinen Länder kommen. Jedenfalls muss die Kommission die Führungsrolle übernehmen und dann ihr Konzept auch mit den NGOs und der Zivilbevölkerung diskutieren.

China überschwemmt Märkte

Die USA versuchen seit zwei Jahrzehnten, ihre Industrie „zurück nach Amerika“ zu holen. Forderungen nach einer neuen Industriepolitik gibt es hier bei Kandidaten von links (Elizabeth Warren) bis rechts (Marco Rubio). Inzwischen ist China zur größten Industriemacht geworden. Peking definiert in „China 2025“ Schlüsselbereiche, bei denen es bis 2050 die Führung übernehmen will.

Inzwischen überschwemmt China die Weltmärkte mit billigen Waren. Die Volksrepublik fokussiert auf Infrastruktur und versucht an Rohstoffe zu kommen. Wenn Afrika „erwacht“, könnte Europa ein Partner sein, seine Technologie anbieten, die dann vor Ort an klimatische Bedingungen und verfügbare Rohstoffe angepasst wird. Dabei könnte Europa selbst viel lernen.

Was sollten die Charakteristika einer neuen europäischen Industriepolitik sein? Sie muss anders sein als die bisherige, sie muss mit der neuen Gesamtstrategie kompatibel sein. Sie soll systemisch sein, statt isoliert, also nicht im Konflikt mit Sozialpolitik oder Wettbewerbspolitik stehen, sondern mit diesen gemeinsam entwickelt werden. Sie muss auch Chefsache werden.

Ein Entdeckungsprozess

Sie muss auch ein Entdeckungsprozess sein, da Regierungen nur eine blasse Ahnung haben, welche Industrien und Technologien in Zukunft entscheidend sein werden. Der Dialog mit Unternehmen, Regionen, Experten ist notwendig.

Gleichzeitig muss die Regierung wissen, dass sie manchmal aus Partikularinteressen falsch informiert wird. Sie soll sich an gesellschaftlichen Prioritäten orientieren, etwa an den Nachhaltigkeitszielen der UNO. Sie soll kompatibel mit Europas Ambition sein, in der Bekämpfung des Klimawandels und der Ungleichheit eine Führungsrolle zu übernehmen.

In der sektoralen Komponente sollen breite Aktivitäten in den Mittelpunkt gestellt werden, nie einzelne Unternehmen. In der horizontalen Komponente müssen alle Mitglieder ihre Forschungsanstrengungen verstärken, Spitzenländer mindestens vier Prozent erreichen, Nachzügler zwei Prozent. Investive Sozialpolitik soll protektive ersetzen.
Der technische Fortschritt muss durch Innovations- und Steuerpolitik umgelenkt werden. Heute dominiert der arbeitssparende technische Fortschritt, dies erfordert oft Wachstumsraten, die nicht erreichbar und nicht klimakompatibel sind. Technischer Fortschritt muss primär Rohstoffe und Energie sparen.

Strukturpolitik 2.0

Der Westbalkan wird von Moskau umworben, es will damit Europa schwächen und Großmachtträume ausleben. Europa darf nicht zögern und muss ebenso wie in Afrika zur Industrialisierung beitragen. Damit schafft es auch einen Markt und begrenzt Migration. Definitionen müssen angepasst werden. Wettbewerbsfähigkeit darf nicht durch niedrige Löhne erzwungen werden, sondern in einer „High-Road-Strategie“ gefestigt werden. Strukturpolitik 2.0 fordert Investitionen und Ausbildung. Verantwortliche Globalisierung verlangt die Anhebung sozialer und ökologischer Standards.

Ursula von der Leyen muss nach der Bildung der Kommission eine neue Strategie forcieren. Angesichts der chaotischen US-Politik und des egozentrischen Chinas hat Europa die Chance, Qualitätsanführer zu werden. Eine neue Industriepolitik wäre ein zentraler Pfeiler dieser Strategie.

Der Autor:

Karl Aiginger (* 1948) studierte Volkswirtschaftslehre an der Uni Wien. 2005 bis 2016 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo). Gastprofessuren an der Wirtschaftsuni Wien und an US-Universitäten. Leiter der Querdenkerplattform: Wien – Europa und des Strategieprojekts WWWforEurope.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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