Ein deutsches Europa? Am Ende des Wohlstands auf Pump

Deutschland will die Tugenden der „Agenda 2010“ europaweit verankern – für Kritiker ist das „unsolidarisch“. Eine Analyse.

"Wir wollen ein europäisches Deutschland und kein deutsches Europa!“ Mit diesem Glaubenssatz sind mehrere Politikergenerationen am Rhein und an der Spree aufgewachsen. Dieses Credo hat jüngst einer der engsten Vertrauten der deutschen Bundeskanzlerin, Fraktionschef Volker Kauder, wenig diplomatisch beendet: „In Europa wird künftig deutsch gesprochen.“

Die Antwort einiger Mitgliedsländer kam prompt und bedient sich der Sprache der Vergangenheit. Deutschland verhalte sich mit seinen strikten Sparvorschlägen „unsolidarisch“. Europaweit eine „Schuldenbremse“ zu verlangen komme einem „Diktat“ gleich.

Die neue Koalition gegen den deutschen Europakurs ist die alte: antideutsch, antieuropäisch, nationalistisch und sozialistisch. Europa wird aus der fundamentalen Krise nur dann herauswachsen, wenn es sich auf einen strikten und vor allem nachhaltigen Reformkurs verständigt. Deutschland hat es bislang als einzige der großen europäischen Volkswirtschaften geschafft, gestärkt aus der Krise herauszukommen. Aus dem „kranken Mann Europas“ vor zehn Jahren ist heute eine Wachstumslokomotive geworden. Die Ursache für den Erfolg liegt in einem Dreiklang aus konsolidieren („sparen“), reformieren und investieren. Zu lange haben die Mitgliedsländer, auch Deutschland, auf Pump gelebt. Das Wachstum der letzten 40 Jahre war überwiegend mit Schulden erkauft. Schulden, die kommende Generationen „später“ abzahlen sollten. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.

Deutschland hat diesen historischen Zeitpunkt gerade noch rechtzeitig erkannt und parteiübergreifend gehandelt. Nach einem verlorenen Jahrzehnt hat die Politik der „Agenda 2010“ den Arbeitsmarkt liberalisiert, die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig reformiert und zuletzt mit der Großen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten eine Schuldenbremse eingeführt. Dieser neue Konsens war nur möglich, weil die deutschen Parteien, unabhängig, wer regierte, in den letzten Jahren bedingungslos kooperiert haben.

Ziel: Die politische Union

An die Spitze der neuen europäischen Reformbewegung hat sich jetzt auch Frankreich gestellt. Staatspräsident Sarkozy riskiert damit wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl seine Abwahl. Er tritt gemeinsam mit der in Frankreich beliebten deutschen Kanzlerin auf, vergleicht Frankreich ständig mit Deutschland und bindet geschickt auch Merkels Vorgänger Gerhard Schröder, den sozialdemokratischen Urheber der „Agenda 2010“, in seinen neuen Reformkurs ein. Alle europäischen Staaten werden sich einem Reformprozess unterziehen müssen, wie ihn Deutschland mit der „Agenda 2010“ hinter sich hat. Ziel einer neuen Agenda für Europa ist die Steigerung der Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit und eine politische Union.

Die gemeinsame Selbstverpflichtung Deutschlands und Frankreichs zu einem strikten Kurs der Stabilität und des Wachstums hat die Börsen inzwischen beruhigt und die Spekulanten vergrätzt. An seine neue Führungsrolle wird sich Deutschland gewöhnen. Vom Vorwurf des „Solidaritätsverweigerers“ wird es sich lossagen können, wenn das Land gemeinsam mit anderen reformwilligen Euroländern die Rolle des Impulsmotors in der noch immer größten Volkswirtschaft der Welt – Europa – übernimmt. Nur mit einer Reform-Allianz der wichtigsten Euroländer wird die Geiselhaft von reformunwilligen Mitgliedern ein Ende haben. Österreich sollte sich bald entscheiden, welcher Gruppe es angehören will: dem alten Europa auf Pump oder der neuen Stabilitäts- und Wachstumsunion.


Daniel Dettling ist als Politikberater in Berlin und Wien tätig (www.zukunftspolitik.at).


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2012)

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