Als Bosnien bei einem Geheimtreffen in Graz aufgeteilt wurde

Gastkommentar. Vor 20 Jahren sicherten sich serbische und kroatische Nationalisten in Bosnien ihre Einflusssphären – auf Kosten der Muslime.

Der Kriegsbeginn in Bosnien-Herzegowina war nur knapp einen Monat verstrichen, als sich der Anführer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, mit dem neuen starken Mann der Kroaten Bosniens oder, besser gesagt, Herzegowinas, Mate Boban, zu einem Geheimtreffen Anfang Mai 1992 auf dem Grazer Flughafen traf. Zu diesem Zeitpunkt war die HDZ, die stärkste Partei der Kroaten Bosniens, formal noch an der bosnischen Regierung beteiligt und mit der muslimischen SDA des bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović verbündet.

Deshalb war das Treffen in Graz auch ein Geheimtreffen, auch wenn in den folgenden Tagen alle österreichischen und internationalen Medien hiervon ausführlich berichteten. Der Inhalt des Treffens auf dem Flughafen blieb zwar geheim – außer einer Verlautbarung Karadžić‘, wie „Die Presse“ am Tag nach dem Treffen berichtete, wonach über die Kantonisierung Bosniens verhandelt wurde. Bereits damals spekulierte die Boulevardpresse – wie sich später herausstellte zu Recht –, ob „Bosnien in Graz verschachert“ würde.

Die Übereinkunft in Graz leitete eine fatale Wende in dem noch jungen Bosnien-Krieg ein: In Graz wurden die Weichen für die Zusammenarbeit zwischen den nationalistischen kroatischen und serbischen Parteien gelegt. Diese führten Anfang 1993 zum Krieg zwischen kroatischen Einheiten und den bosnischen Regierungstruppen und erreichten ihren symbolischen Höhepunkt mit der Zerstörung der Brücke von Mostar im November 1993.

Das Treffen am 6.Mai zwischen Boban und Karadžić folgte auf eine Zusammenkunft zwischen den Präsidenten Serbiens und Kroatiens, Slobodan Milošević und Franjo Tudjman, im März des Vorjahres in Titos Jagdsitz Karadjordjevo, auf dem beide sich auf eine Teilung Bosniens geeinigt hatten.

Was genau hatten Boban und Karadžić in Graz vereinbart? Obwohl bereits damals die Medien über eine Teilung Bosniens spekulierten und auch vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien das Grazer Abkommen erwähnt wurde, blieb der genaue Inhalt bis 1994 weitgehend unbekannt. Die Sarajewoer Tageszeitung „Oslobodjenje“ berichtete neben einem Foto der brennenden Stadt wohl informiert von einem kartografischen Angriff aus Graz und rekonstruierte aus den Berichten über das Treffen den Inhalt der Übereinkunft. Die Journalisten der „Kleinen Zeitung“ sahen, wie sich die serbische und kroatische Delegation über eine große Landkarte Bosniens berieten. Diese Grazer Übereinkunft beschreibt im Detail die Aufteilung Bosniens zwischen einer kroatischen und einer serbischen Einflusssphäre.

Nicht in allen Bereichen sind sich die kroatischen und serbischen Vertreter einig. Während Karadžić auf dem Fluss Neretva als Grenze zwischen den kroatischen und serbischen Territorien besteht, setzt sich Boban für eine für die Kroaten vorteilhaftere Grenze der kroatischen Banschaft (innerhalb Jugoslawiens) von 1939 ein. Im Norden Bosniens kommen die beiden Politiker zu einer Einigung über den strategischen Posavina-Korridor, der serbisch beanspruchte Gebiete um Banja Luka mit Serbien verbindet.

Am Ende hält das Abkommen fest, dass „hiermit keine Gründe für weitere bewaffnete Konflikte zwischen Serben und Kroaten auf dem Territorium Bosniens und der Herzegovina bestehen“.

In keinem Wort erwähnt das Abkommen die Muslime des Landes, die nicht nur die größte Bevölkerungsgruppe Bosniens waren, sondern auch in jenen Gebieten lebten, die Boban und Karadžić am Verhandlungstisch aufteilten. Besonders absurd ist dies im Fall von Mostar mit der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, wo es bereits ein Jahr später zu heftigen Kämpfen zwischen kroatischen und muslimischen Einheiten kommen wird. Das Abkommen hält fest, dass die Serben den Fluss Neretva, der die Stadt teilt, als Grenze sehen, während die Kroaten die gesamte Stadt für sich beanspruchen.

Im Haager Prozess betonte Karadžić die Bedeutung der Grazer Übereinkunft, die den serbisch-kroatischen Konflikt weitgehend befriedet hat. Ähnlich bezeichnete der angesehene serbische Journalist Miloš Vasić 1993 das Grazer Abkommen als „das wichtigste Dokument des Krieges“, da es den serbisch-kroatischen Konflikt weitgehend beilegte und es der Armee der bosnischen Serben ermöglichte, sich auf muslimische Ziele zu konzentrieren. Somit führte das Abkommen nicht zu einer schnellen Beendigung des Kriegs, sondern trug erheblich dazu bei, dass der Krieg über dreieinhalb Jahre dauerte.

Die Landkarten, auf die die neuen nationalistischen Führer arrogant mit Stiften neue Grenzen zogen, waren schon vor Graz gezeichnet worden: Die Europäische Gemeinschaft hatte unter der Vermittlung des portugiesischen Diplomaten José Cutileiro Anfang 1992 die Schaffung ethnischer Kantone unterstützt. Somit wurde die Aufteilung Bosniens im Prinzip schon 1991 beschlossen.

In Graz wurden jedoch die Grenzen neu gezogen und ein Konflikt beigelegt, um einen anderen zu beginnen. Die Übereinkunft war somit ein folgenschwerer Schritt, gerade der bosnischen Kroaten, in dem Krieg gegen die nunmehr muslimisch dominierte Regierung Bosniens. Erst mit dem Washingtoner Abkommen 1994 konnte dieser Krieg im Krieg beendet werden, und somit wurde das Friedensabkommen von Dayton ermöglicht.

Was bleibt vom Grazer Abkommen? Es folgten noch mehr als drei Jahre Krieg mit 100.000 Opfern, und die Grenzen wurden durch den Krieg neu gezogen. Die Grenze zwischen der kroatisch und serbisch dominierten Herzegowina verläuft genau so, wie es sich die kroatischen Verhandler in Graz erhofft haben, weitgehend entlang der Grenze der kroatischen Banschaft von 1939. Der enge Korridor, der die zwei Hälften der „Republika Srpska“ verbindet, ist jedoch heute durch den Bezirk Brčko unterbrochen, da diese umstrittene Stadt im Friedensvertrag keiner der beiden Entitäten Bosniens zugeschlagen wurde.

Wichtiger noch als die neu gezogenen Grenzen ist die Idee, Bosnien nach ethnischen Kriterien aufzuteilen. Die Grazer Übereinkunft erinnert somit 20 Jahre danach an die Skrupellosigkeit der nationalistischen Kriegstreiber und die Unfähigkeit bzw. den fehlenden Willen der internationalen Gemeinschaft, die Kriegsfolgen rückgängig zu machen. Auch wenn Boban bereits 1997 starb und Karadžić heute vor Gericht steht, sind ihre Pläne und Landkarten weiterhin lebendig.

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comFlorian Bieber ist Universitätsprofessor an der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien. Er ist Politikwissenschaftler und Historiker und beschäftigt sich mit der jüngsten Geschichte des ehemaligen Jugoslawiens. Bieber ist Autor von „Post-War Bosnia“ und „Nationalismus in Serbien vom Tode Titos zum Ende der Ära Milošević.“ [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2012)

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