Ungarn und Polen: Auf dem Weg zu liberalen Autokratien

Die Fachzeitschrift „Osteuropa“ untersucht, wohin Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński ihre Länder steuern.

Was ist eigentlich los in Ungarn und in Polen – den einst quirligen, mutigen, kreativen Vorreitern bei der Unterminierung des marxistisch-leninistischen Herrschaftssystems im damaligen Ostblock? Fast dreißig Jahre, nachdem sie mit dazu beigetragen hatten, das morsche kommunistische Gebäude zum Einsturz zu bringen, sind die beiden Länder zum Vorreiter des illiberalen Staates geworden. Zum Entsetzen vieler Polen- und Ungarn-Freunde im westlichen Europa, aber zur Freude vieler Anhänger des dortigen rechten politischen Lagers, die das Vorgehen der Regierungen in Budapest gegen das Justizsystem, die Zentralisierung der Macht, das Einschränken unabhängiger Medien und einer lebendigen Zivilgesellschaft, das ständige Kreieren von Feindbildern und Aufrechterhalten eines permanenten innenpolitischen Ausnahmezustands als Inspiration für ihre eigenen politischen Projekte ansehen. Ja, es hat den Anschein, dass die Orbán- und Kaczyński-Fangemeinde außerhalb Ungarns und Polens ständig zunimmt.

Der neue Band der Berliner Fachzeitschrift „Osteuropa“ spürt auf 520 Seiten den innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn und Polen nach und beleuchtet die dortige Innenpolitik, die Wirtschaft, die Kultur- und Geschichtspolitik. Fazit der beiden Herausgeber Manfred Sapper und Volker Weichsel, was Ungarn anbetrifft: Ungarn ist nach acht Jahren uneingeschränkter Herrschaft der Orbán-Partei Fidesz eine „liberale Autokratie – eine Autokratie, in der noch die Bürgerrechte gelten“; die polnische Regierung habe ebenfalls die Weichen in diese Richtung gestellt.

Der Budapester Historiker Krisztián Ungváry wiederum analysiert: „Ungarn ist zwar formal eine parlamentarische Demokratie, aber die reale Funktionsweise des Parlaments und der Regierungspartei entspricht der parlamentarischen Demokratie keineswegs. Demokratie ist weder Ziel noch Inhalt, sie dient lediglich der Legitimation von Orbáns ,System der nationalen Zusammenarbeit‘.“ Ungváry verweist auch auf den US-Starjournalisten Fareed Zakaria, den das Geschehen in Ungarn an den Putinismus erinnert, und er stimmt ihm zu: „Was die Aushöhlung der demokratischen Einrichtungen angeht, weist Ungarn tatsächlich verblüffende Ähnlichkeiten mit Russland auf.“

Nur, wie konnte es so weit kommen? Für den Fidesz-Abgeordneten zum Europaparlament György Schöpflin ist die Entwicklung die Reaktion Mittel(ost)europas auf die ihm vom westeuropäischen quasifundamentalistischen Liberalismus nach 1989 aufgezwungene Modernisierung. Schöpflin schreibt vom „neokolonialen moralischen Imperativ“; schon wieder dränge der Westen dem Nichtwesten seine angeblich universellen kulturellen Normen auf. Diese liberale Mission aber sei auf „unvollkommene, unentschlossene, marginalisierte und machtlose Nationen“ gestoßen: „Das Ergebnis ist Frustration, die einen Nährboden für Ethnozentrismus, Populismus und xenophoben, defensiven Nationalismus schafft.“

In Polen und Ungarn, das wird in diesem Band immer wieder deutlich, herrscht eine Art nationales Minderwertigkeitsgefühl, das die jetzigen Regierungsparteien geschickt für ihre politische Agenda nutzen. Den beiden Nationen könnte ein Psychologe eigentlich nur ins Gewissen reden: „Dieses Unterlegenheitsgefühl habt ihr beide doch überhaupt nicht nötig.“ Die Westeuropäer aber müssen sich schon einmal selbstkritisch fragen, ob sie sich ihren östlichen Nachbarn gegenüber nach 1989 nicht viel zu arrogant und unsensibel verhalten haben.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.