Mit Federn, Haut und Haar: Vermeiden Naturwissenschaftler den gesellschaftlichen Diskurs?

Feigheit und Unfähigkeit, Standpunkte zu artikulieren, sind bis heute Wegbereiter von Totalitarismus und Faschismus.

Der Tod von Irenäus Eibl-Eibesfeldt (IEE) machte bewusst, wie wenige Naturwissenschaftler heute zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen. IEE wurde bereits ausführlich gewürdigt. Er war Begründer der Humanethologie und erforschte das Verhalten von Menschen und anderen Tieren. Er initiierte den Schutz und die Erforschung der Galapagosinseln usw. In den 1960er-Jahren begann er, einige damals noch wenig kontaktierte Völker in Afrika, Südamerika und Neuguinea zu besuchen, um durch die Dokumentation von Alltagsszenen das Gemeinsame im menschlichen Ausdrucksverhalten nachzuweisen.

1984 veröffentlichte er sein Lehrbuch der Humanethologie, die fünfte, aktualisierte Auflage kam 2004. Er begründete das weltweit größte Dokumentationsarchiv zum menschlichen Verhalten und beschrieb „Universalien“, also genetisch fundierte Elemente des menschlichen biokulturellen Verhaltens.

IEE präsentierte in seinen populärwissenschaftlichen Büchern eine differenzierte Sicht auf die biologische Basis unseres Wesens und Verhaltens. Er schrieb über das „Ererbte als bestimmenden Faktor im menschlichen Verhalten“, über „Krieg und Frieden“, über die „menschliche Unvernunft“, insbesondere über die „Falle des Kurzzeitvorteils“. Er schrieb gegen „die Misstrauensgesellschaft“ an und stellte Liebe, Freundlichkeit, Verzeihen und Versöhnen als zentrale Säulen menschlichen Verhaltens dar. IEE wies auf die Universalie der Fremdenangst hin, stellte Europa als Einwanderungsland infrage, sah aber auch Chancen für multikulturelle Gesellschaften.

Den Meister der Grenzüberschreitung griffen vor allem Sozial- und Kulturwissenschaftler mit wenig Ahnung von Biologie und Evolution als „Reduktionisten“ und „rechten Ideologen“ an. Man muss IEEs politische Schlüsse nicht teilen, um anzuerkennen, dass er sich im Diskurs engagierte. Zu einer Zeit, als – verständlich nach den biologistischen Orgien der Nazis – die meisten deutschsprachigen Biologen das gesellschaftliche Gespräch verweigerten.

Wenn seine Abschottungsempfehlungen nun von den EU-Innenministern umgesetzt werden, mag man das ablehnen oder begrüßen. Späte Bestätigung für IEEs frühe, immer sachlich-pragmatische, nie ideologisch begründete Warnungen, Europa könne nur dann einen Beitrag zur Bekämpfung von Elend auf der Welt leisten, wenn es seinen Wohlstand und seine Werte behalte? Ethnische, religiöse und kulturelle Auseinandersetzungen in diesem Europa aufgrund der Aufnahme von „zu vielen“ Immigranten würden diese Fähigkeit schwächen und wären daher kontraproduktiv.

Man muss die Folgerungen des IEE aus seinem evolutionären Weltbild nicht teilen, aber er brachte sich zumindest beredt und sachlich ein. Feigheit und Unfähigkeit oder Unwille, politische Standpunkte zu artikulieren, sind bis heute Wegbereiter von Totalitarismus und Faschismus. Und nein, Faschismus wird nicht durch die Diskussion „rechts“ anmutender Positionen befördert, sondern vielmehr durch die anhaltende Gesprächs- und Diskussionsverweigerung einer Mehrheit der bürgerlichen und intellektuellen Eliten; vor allem durch ihre selbst auferlegten, moralbedingten Denkverbote. Die Aufklärung braucht Öffentlichkeit – oder die Menschlichkeit geht (wieder einmal) vor die Hunde.

Die Botschaften des IEE sind natürlich kritisierbar, aber ein Anwalt der Aufklärung war er allemal.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2018)

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