Die sunnitsche Bevölkerung der nordirakischen Stadt braucht ein politisches Angebot. Sonst könnte aus dem Grab des IS ein neues Monster hervorkriechen.
Es hätte laut dem Mythos des sogenannten Islamischen Staates die Endschlacht werden sollen, der letzte Zusammenprall zwischen „Gut und Böse“. Doch die Schlacht verlief unspektakulär. Zwar hatten die IS-Extremisten die Gegend rund um die nordsyrische Ortschaft Dabiq massiv vermint. Der türkischen Armee und mit ihr verbündeten syrischen Rebellen gelang es am Wochenende aber relativ leicht, die nur mehrere Tausend Einwohner zählende Siedlung einzunehmen. Die angeblich so todesmutigen IS-Kämpfer ergriffen – so wie bei allen wichtigen Gefechten im vergangenen Jahr – die Flucht.
Die muslimische Schrift Hadith 6924 beschreibt – ähnlich wie Teile der Bibel – ein Endzeitszenario: den Kampf der Anhänger Gottes in Dabiq gegen eine Armee der Finsternis – symbolisiert durch die Römer. Der IS verwendet diese alte religiöse Erzählung als Versatzstück für seine bizarre Ideologie und deutet sie in ein reales Aufeinandertreffen zwischen seinen Kämpfern und seinen Feinden um. Dem Reality Check hielt diese apokalyptische Wahnidee des IS aber nicht stand.
Die wahre Endschlacht, die über die Zukunft der Extremistenorganisation entscheidet, findet auch nicht in dem kleinen nordsyrischen Ort statt. Sie wird gerade rund um die nordirakische Millionenstadt Mossul ausgefochten. In Mossul geht es nicht so wie in Dabiq um ideologische Spinnereien und Fantasy-Heldengeschichten, mit denen die IS-Führung junge Kämpfer anzuwerben versucht. Hier geht es um handfeste strategische Interessen.
Verliert der IS seine Hochburg Mossul, würde das dem von ihm ausgerufenen „Kalifat“ das Rückgrat brechen. Denn dann blieben ihm nur noch die Stadt Raqqa und die anderen Rückzugsgebiete in Syrien. Die wichtigsten Bevölkerungszentren seines pseudostaatlichen Gebildes lagen aber immer im Irak. Hier hat der IS auch lokale Einheiten unter Waffen, die das Märchen von Dabiq wohl selbst nie glaubten, die aber nun in der Schlacht um Mossul einiges zu verlieren haben. Unter ihnen befinden sich ehemalige Kader des 2003 gestürzten Diktators Saddam Hussein, die auf den dahinrasenden Irrsinnszug IS aufgesprungen sind, weil sie sich davon strategische Vorteile erhofft haben.
Auch wenn es die Propagandaabteilung des Pseudokalifats anders darzustellen versucht: Mossul fiel im Juni 2014 nicht nur, weil ein paar Dutzend Geländefahrzeuge mit wehenden schwarzen Jihadistenflaggen herangebraust kamen. Vielmehr gab es in der Millionenstadt und anderen von wichtigen sunnitischen Stämmen bewohnten Teilen des Irak einen Aufstand gegen den autoritär auftretenden schiitischen Premier, Nouri al-Maliki. Und dem IS gelang es nach dem Ausbooten einstiger Mitrevolutionäre, die Kontrolle zu übernehmen.
Inwieweit Teile des alten Bündnisses des IS mit lokalen sunnitischen Stammeskämpfern und bewaffneten Saddam-Anhängern noch intakt sind, ist schwer zu sagen. Die sogenannte Naqshbandi-Armee des früheren Saddam-Vize Izzat Ibrahim al-Douri, die 2014 an der Eroberung Mossuls mitbeteiligt war, soll die Bevölkerung der Stadt jedenfalls bereits zum Aufstand gegen die IS-Herrschaft aufgerufen haben. Zugleich warnt sie in ihrem Pamphlet aber schiitische Kräfte davor, nach Mossul vorzustoßen.
Die Abneigung vieler in Mossul gegenüber der Zentralmacht in Bagdad, der irakischen Armee und den schiitischen Milizen ist neben den IS-Unterdrückungsmaßnahmen ein Grund dafür, dass sich der Islamische Staat so lang halten konnte. Damit Teile der Bevölkerung der Millionenstadt den IS nicht nach wie vor als gleichsam geringeres Übel ansehen, brauchen sie Sicherheiten und ein politisches Angebot.
Die Vertreibung des IS aus Mossul ist ein notwendiges und militärisch komplexes Unterfangen. Noch schwieriger wird aber die Neuordnung am Tag danach – die wahre politische Schlacht, die über die Zukunft der Stadt und ein funktionierendes Zusammenleben im Irak entscheiden wird. Geht dabei etwas schief, dann könnte aus dem Grab des IS in Mossul ein neues Monster hervorkriechen – eines, das vielleicht nicht für dieselben grausamen, apokalyptischen Ideen steht, aber ebenso gefährlich ist.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2016)