Leitartikel

Eine vernünftige Debatte zu Flüchtlingen ist unmöglich

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Die Reform der Dublin-Verordnung ist notwendig, um Fairness in die Verteilung zu bringen. Aber sie droht die Mitgliedstaaten erneut zu entzweien.

Wahlen werden mit dem Thema gewonnen oder verloren, Freundschaften entzweit und Familienfeiern gesprengt. Es ist nicht verwunderlich, dass es auch den 28 EU-Mitgliedstaaten derzeit nicht gelingt, rational, vernünftig und in Abwägung der Argumente eine praktikable Lösung für die zweifelsfrei wiederkehrende Flüchtlingsproblematik zu finden.

Wer freilich Politik in so heiklen Fragen auf vorhandene Emotionen ausrichtet, wird auch in Zukunft keine konstruktive Linie zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und ihrer von einer klaren Mehrheit der Gesellschaft mitzutragenden Umsetzung finden. Unter solchen Voraussetzungen, das zeigt sich nun, ist es nicht einmal möglich, ein für alle Mal die Zuständigkeit für Asylanträge innerhalb der EU zu klären.

Die Dublin-Verordnung, die bisher dem Erstaufnahmeland eine erhebliche Last aufgebürdet hat, ist seit der chaotischen Massenflucht über die Balkanroute obsolet geworden. Will die EU nicht zerbrechen, kann sie Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien nicht ewig mit ihrem Schicksal alleinlassen, nur weil sie zufällig geografisch an der Einfallschneise aus Nahost oder Nordafrika liegen.

Wäre es möglich, die Emotionen auszublenden, müsste die Gunst der Stunde – in einer Phase sinkender Flüchtlingszahlen – dafür genutzt werden, solche Regeln offen zu diskutieren. Das Europaparlament hat das getan, die Mitgliedstaaten, so wird signalisiert, sind aber noch lang nicht dazu bereit. Statt des Kriteriums des Erstaufnahmelandes soll nach den bisherigen Vorschlägen ein ganzer Kriterienkatalog darüber entscheiden, wo ein Flüchtling künftig in der EU seinen Asylantrag stellt. Die Kriterien reichen von der Familienzusammenführung bis zur wirtschaftlichen Stärke des ausgewählten Landes. Es ist ein durchaus ernst zu nehmender Kompromiss, der aber in Ländern wie Ungarn, der Slowakei oder Polen mit dem Stichwort „Zwangsverteilung“ rasch wieder verworfen wird.

Obwohl ein solches System auch Österreich entlasten würde, gibt es selbst in unserem Land viele Stimmen, die eine solche Reform ablehnen. Und zwar nur mit dem Argument, dass dadurch eine gemeinsame europäische Verantwortung in der Flüchtlingspolitik festgeschrieben würde. Da hegt man lieber die Illusion, mit Zäunen an der eigenen Grenze und mit immer neuen Abschreckungssignalen künftig allein mit dem Problem fertigzuwerden.

Die Emotionen sind da. Und sie werden mit einer nationalen Abschottungspolitik nicht weniger. Ministerpräsident Viktor Orbán in Ungarn will mit seiner harten Haltung gegen die EU-Flüchtlingsverteilung noch einmal eine Wahl gewinnen, die polnische Kaczyński-Regierung will sich angesichts wachsenden innenpolitischen Drucks noch einmal in Brüssel unerbittlich zeigen. Und das, obwohl – ganz kühl kalkuliert – gerade Polen ein Interesse an einer Änderung der Dublin-Regel haben sollte. Denn im Fall einer neuerlichen Eskalation in der Ukraine wäre es selbst ein Erstaufnahmeland für Flüchtlinge.


Die EU-Mitgliedstaaten werden so rasch nicht über ihren Schatten springen. Und es ist eine Schande, dass sie auch in anderen Feldern der gemeinsamen Migrationspolitik aus der selbigen Kurzsichtigkeit versagen. Die Kontrolle der Außengrenze ist zwar verbessert worden, aber funktioniert nicht einwandfrei, weil EU-Regierungen nur zögerlich Ressourcen dafür bereitstellen. Die Versorgung von Flüchtlingen in Herkunfts- und Transitländern liegt im Argen, weil europäische Staaten eine ausreichende Finanzierung verweigern. Die Abschiebung von abgelehnten Asylwerbern funktioniert nicht konsequent, weil der Verwaltungsaufwand und die Kooperation mit den Herkunftsländern diese nach wie vor bremsen.

Der Plan, wonach bereits außerhalb der EU eine Vorentscheidung darüber fallen soll, wer als Verfolgter in Europa aufgenommen und wer als Wirtschaftsflüchtling abgewiesen werden soll: Auch er kann unter anderem deshalb nicht umgesetzt werden, weil – und hier schließt sich der Kreis – es keine neue Dublin-Verordnung zur Verteilung dieser Menschen in der EU gibt.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2017)

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