Leitartikel

170 Jahre "Die Presse": Wenn das Rad immer wieder neu erfunden wird

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170 Jahre „ Die Presse“ machen stolz und optimistisch. Ein guter Anlass für Journalismus-Lob und Selbstkritik – samt einer Gebrauchsanweisung für eine besondere Jubiläumsausgabe.

Keine andere Medienmarke in diesem Land hat im Laufe ihrer 170-jährigen Geschichte, die auch lückenhaft ist, so viele Zuschreibungen bekommen – konservativ wie liberal, revolutionär wie verstaubt, regierungskritisch wie -treu, aktionistisch wie langweilig, eine alte Tante und die publizistische Visitenkarte des Landes. Und in jedem dieser Attribute steckt oder steckte wohl ein Funken Wahrheit.

„Die Presse“ spiegelt die Geschichte Österreichs und Europas, von der Monarchie bis zur Demokratie im Herzen der Europäischen Union. Manches über und aus der „Presse“ muss man wahrheitsgemäß benennen: Es sind Mythen. Schon der Beginn ist ein solcher. Die Zeitung wurde nicht etwa von den Revolutionären auf den Barrikaden im Wien des Jahres 1848 gegründet, sondern von einem Entrepreneur im klassischen Sinn. August Zang, der kosmopolitische Zang, erkannte die Marktlücke einer liberal-bürgerlichen Zeitung, die sich dem 48er-Zeitgeist anschloss. Ihm ging es nicht nur um das politische Statement, sondern auch um das Ansehen durch ein solches Wagnis, aber auch um das Geschäft. Unter seiner Verlagsführung wurde das Zeitungsanzeigengeschäft in Österreich eingeführt.

Die allzu große Verschmelzung von Werbung und redaktionellen Inhalten führte zu Unmut in der Redaktion. Es kam zu einer Abspaltung, die „Neue Freie Presse“ ist eigentlich jene Zeitung, auf die wir Nachfahren heute so stolz verweisen, schrieben für sie doch die führenden Köpfe ihrer Zeit. Gelesen wurde die Zeitung im gesamten deutschsprachigen Raum und in allen Kronländern. Der Kaiser mochte lieber die ihm wohlgesonnene alte „Presse“, die dann sanft entschlummerte.

Kommerzielle Sorgen gehören übrigens zur Geschichte der Zeitung wie die klingenden Namen von Karl Marx bis Stefan Zweig. In der Redaktion arbeiteten wie in fast allen führenden des deutschsprachigen Raums zahlreiche jüdische Journalisten, die allesamt mit der Machtübernahme der Nazis und dem sogenannten „Anschluss“ Job und häufig auch ihr Leben verloren. „Die Presse“ wurde dann sogar eingestellt, erst nach der Befreiung mithilfe der Amerikaner neu gegründet. Die Tatsache, dass mit Fritz Molden ein Widerstandskämpfer an die Spitze trat, darf von einer Tatsache nicht ablenken: Die NS-Zeit und vor allem die Rolle von Österreichern in der dazugehörigen Mordmaschinerie wurden in dieser Zeitung wie fast im ganzen Land sträflich verdrängt und verharmlost.

Zwischen Macht und Ohnmacht

„Die Presse“ war sich ihrer Rolle nie ganz sicher: offizielle Regierungszeitung oder publizistisches Gegengewicht? Wie bei so vielen Positionierungen änderte sich das immer wieder, die Kritik war wohl immer stärker. Was vielleicht auch mit den Regierungen zu tun hat.

Die guten und nicht so guten Kapitel der „Presse“-Geschichte, dieses Wechselspiel zwischen Macht und Ohnmacht, haben wir zu diesem Anlass in einer neuen Ausgabe unserer beliebten Geschichte-Magazin-Reihe zusammengefasst und präzise beschrieben. Unser Haushistoriker Günther Haller hat sich dazu in die Archive und Bibliotheken der „Presse“ begeben, recherchiert und diese 170 Jahre österreichisches Kulturgut beschrieben.

In der heutigen Jubiläumsausgabe liefert die gesamte Redaktion eine Leistungsschau der besonderen Art. Diese Zeitung ist die vielleicht dickste unserer Geschichte, zahlreiche unserer langjährigen Partner, viele Freunde und fast alle Inseratenkunden gratulieren der „Presse“, wofür ich mich namens des Hauses bedanken darf.

Wie sehr „Die Presse“ der Spiegel der Zeitgeschichte ist, zeigen wir auf den Aufschlagseiten der einzelnen Bücher, jedes dieser Cover beweist, wie sehr sich das Bild der Zeitung, unser Layout, über die Jahrzehnte verändert hat und wie wir die historischen Ereignisse begriffen und dargestellt haben. Journalismus ist Wiederholung, lautet ein zynischer Spruch, ich halte davon nichts. Journalismus ist der Versuch, das Journalismus-Rad immer wieder neu zu erfinden.

Bei der Produktion erlebten wir die eine oder andere Überraschung, etwa, dass der Tod von Prinzessin Di in der „Presse“ titelseitenwürdig war, aus heutiger Sicht eine logische Entscheidung, damals durchaus ungewöhnlich. Die einzelnen Bücher, die Florian Asamer gemeinsam mit Stefan Förstel, Pasha Rafiy und Tina Stani zusammenstellte und kuratierte, folgen zentralen Begriffen, die in den 170 Jahren von Bedeutung für die Zeitung waren: „Weltmächte“, „Umsturz“, „Crash“, „Metropole“, „Frei“ und „Irritation“. Das erste Buch, „Jetzt“, dient der Einführung in diese Zeitreise.

Die klassischen Beilagen „Wissen“, „Karriere“ und „Reise“ folgen dem historischen Schwerpunkt, der das Land in diesem Jahr beschäftigt. Dabei finden Sie etwa den Nachruf von Julius Payer über seinen Expeditionspartner Karl Weyprecht, zusammen hatten sie die große österreichisch-ungarische Polarexpedition unternommen. Und: In den „Immobilien“ drucken wir einen langen Leserbrief von Adolf Loos ab, in dem er einst sein Haus am Wiener Michaelerplatz gegen die Kritik der Wiener Wutbürger verteidigte. Das hat bis heute Tradition: Mails und Leserbriefe schreiben in der „Presse“ auch immer wieder Persönlichkeiten, die eigentlich auch ein Interview geben könnten, aber lieber als ganz normale Leser wahrgenommen werden wollen.

Neben neuen Texten der 2018er-Mannschaft drucken wir Texte unserer prominenten Autoren ab, die die Zeitung begleiteten und so wertvoll machten. Karl Marx schrieb einst aus London über den Amerikanischen Bürgerkrieg, Stefan Zweig war für die „Presse“ nach dem Ausbruch der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise im Goldtresor der Banque de France in Paris. Ein gewisser Sigmund Freud überließ der „Presse“ einen Vorabdruck seines Buchs „Das Unbehagen in der Kultur“. Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek las einen Text von Martin Leidenfrost im „Spectrum“ über den Tod einer jungen slowakischen Pflegerin und verfasste ein großes eigenes Stück dazu. Apropos „Spectrum“: Die eigene Beilage fällt diesmal aus, das Team um Karl Woisetschläger und Wolfgang Freitag hat sein eigentliches Ziel erreicht: Sie haben haben mit dem Redigieren der Originaltexte diesmal die gesamte Zeitung zum „Spectrum“ umfunktioniert.

Offen gestanden sind wir, bin ich immer wieder ehrfürchtig, welche Tradition wir da fortschreiben dürfen. Und werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2018)

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