Leitartikel

Die EU in Zeiten der Finsternis

Europas politische Akteure betreiben innenpolitische Taktik, statt anstehende Probleme wie Brexit oder Migration zu lösen. Das wird unerträglich.

At the end of the day“ ist eine Floskel, die sich in Brüsseler Verhandlerkreisen durchgesetzt hat und leider allzu oft verwendet wird. Sie suggeriert eine Endgültigkeit, die noch nicht erreicht wurde. Die eingedeutschte Variante „am Ende des Tages“ lässt in ähnlicher Weise eine Entscheidung erwarten. Die Verwendung dieser Floskel wird dann nervend, wenn sie noch immer ausgesprochen wird, obwohl es schon längst Zeit ist, auf dem schwierigen Brüsseler Parkett Kompromisse zu finden. Wer allein die immer wieder aufgeschobenen Lösungen für den Brexit oder das Migrationsproblem betrachtet, will den Akteuren zuschreien: „Wir haben das Ende des Tages längst erreicht. Es ist finster!“

Die Akteure sind vor allem die Staats- und Regierungschefs der EU, die, statt die gemeinsame Politik zu gestalten, lieber innenpolitische Symbolakte setzen oder – siehe Deutschland – interne Machtkämpfe austragen. Obwohl objektiv alles auf dem Tisch liegt, kommen sie auf diese Weise nicht voran.

Da ist der Brexit, der eine saubere Trennung der Gemeinschaft von Großbritannien verlangt. Die britische Premierministerin, Theresa May, hat sich aber aus innenpolitischen Gründen auf einen Balanceakt eingelassen, der nicht nur die wohlmeinendsten europäischen Partner verstört, sondern diese Verhandlungen unnötig blockiert. Dabei ist die Lösung relativ einfach: Großbritannien wird um eine Zollunion mit der EU nicht herumkommen, weil es keine inneririschen Grenzkontrollen einführen und der eigenen Wirtschaft nicht unnötigen Schaden zufügen will. Theresa May müsste dafür nur einmal über ihren Schatten springen, Vernunft statt Parteitaktik den Vorzug geben.

Da ist das Migrationsthema, bei dem eine Lösung notwendig wird, die den Zuwanderungsdruck auf europäische Staaten reduziert, aber den völkerrechtlichen und christlichen Grundsätzen des Kontinents entspricht. Eine Aufgabe, die eigentlich schwer genug wäre. Die einzige praktikable Lösung sind eine frühe Auswahl von Schutzbedürftigen bereits in Afrika und Nahost und ein striktes Zurückweisen illegaler Einwanderer. Ob das in Asylzentren in Afrika oder auch in Sammellagern entlang der Westbalkanroute geschieht, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass alle von derselben Realität reden und nicht mehr von der Illusion, Europa für alle Migranten „dicht“ zu machen. Ein Kompromiss ist möglich, wenn sich die EU-Regierungen darauf einigen können, die Kontrolle der Außengrenzen deutlich zu verstärken und ein gemeinsames Asylsystem über großzügige Resettlementprogramme zu installieren. Aber dann muss auch eine solidarische Aufteilung dieser wirklich schutzbedürftigen Menschen organisiert werden.

Ohne einen großen Schritt in der Migrationsfrage ist keine vernünftige Arbeit an anderen wichtigen Herausforderungen der EU möglich. Auch wenn die Zahlen an Migranten zurückgehen, ist hier in Wahlkämpfen und politischen Statements so viel Spannung erzeugt worden, dass es höchste Zeit für praktische Lösungen ist. Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen begreifen, dass sie sich selbst lähmen, wenn sie dieses emotionale Thema nicht endlich beruhigen und zu lösen beginnen. Derzeit entsteht leider eher der Eindruck, dass einige – da ist die heimische Bundesregierung nicht auszunehmen – noch immer gerne macht- und wahltaktisch damit spielen.


Die EU braucht in Zeiten neuer transatlantischer Spannungen und eines wachsenden chinesischen Imperialismus vor allem freie Kapazitäten, diesen weltpolitischen Herausforderungen zu begegnen. Wenn sie sich mit Brexit, Migration und Grabenkämpfen wie jenen zwischen CSU und CDU aufhalten lässt, wird sie Schaden nehmen.

Am Ende des Tages, um sich dieser unerträglichen Floskel noch einmal zu bedienen, müssen sich die verantwortlichen Staats- und Regierungschefs der EU die Frage gefallen lassen: „Was haben Sie erreicht?“ Lösungen produziert oder nur Stimmungen bedient, um die eigene innenpolitische Machtbasis ein paar weitere Tage abzusichern?

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2018)

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