London will sich vor EU-Einfluss und EU-Bürgern abschotten. Im Fall von Nordirland will es aber genau das Gegenteil – wie geht das zusammen?
Sie ist ein Garant dafür, dass dieser Konflikt nicht wieder ausbricht: Die offene Grenze zwischen der Republik Irland und der zu Großbritannien gehörenden Provinz Nordirland. Einst standen hier Wachtürme der britischen Armee, sie sollten die protestantische Bevölkerung vor Übergriffen katholischer Nationalisten schützen. Zwischen 1969 und 1998 tobte ein Kampf um Macht und Identität zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen Nordirlands. Es ging bei Weitem nicht nur um Religion, es ging um Selbstbestimmung der einen und Ausgrenzung der anderen Gruppe. 3500 Menschen starben bei sinnlosen Auseinandersetzungen und Anschlägen.
Wenn nun diese offene Grenze zur Schicksalsfrage des britischen EU-Austritts wird, ist das zum einen verständlich, zum anderen eine Ironie der Geschichte. Verständlich, weil die gegenseitige Öffnung der Republik Irland und Nordirland Teil des Karfreitagsabkommens vor 20 Jahren war – ein Symbol des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Akzeptanz. Der Norden der Insel war nach 1998 kein Hexenkessel mehr, in dem britische Soldaten und die IRA ihren Machtanspruch demonstrierten und die Bevölkerung in einen unausweichlichen Konflikt drängten. Mit der Öffnung der Grenze wich auch der Druck aus diesem Kessel. Die Ironie freilich ist, dass gerade Großbritannien jetzt auf eine Fortsetzung dieses freien Übergangs zwischen beiden Teilen Irlands drängen muss. Ein Land, das seine Grenzen zur EU nie geöffnet hat, nun aus der Gemeinschaft austreten möchte, um diese Abschottung zu vollenden, will bei der irischen Grenze ausgerechnet das Gegenteil dessen erreichen.
Eigentlich geht das nicht zusammen: Großbritannien kann nicht einerseits auf eine offene Grenze zwischen dem EU-Mitgliedstaat Irland und seiner Provinz Nordirland bestehen, gleichzeitig aber seine eigenen Außengrenzen schärfer denn je kontrollieren. Denn die irische Grenze ist ein Teil dieser Außengrenze. Würde sie nach dem EU-Austritt komplett offen gehalten, wäre sie Einfallstor für illegale Waren und vielleicht sogar für illegale Migranten. Gleichzeitig könnten Waren, die über Großbritannien importiert werden, unverzollt und unversteuert über diese Grenze überallhin in die EU weitergeleitet werden.
Was also tun? Letztlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, die im Finale der Austrittsverhandlungen diskutiert werden: Entweder Großbritannien bleibt als Ganzes zumindest für Waren in einer Zollunion mit der EU, oder es bleibt lediglich Nordirland Teil des EU-Binnenmarkts. Das eine hätte für die Briten den empfundenen Nachteil, dass sie sich weiterhin an gewisse Normen und Regeln der EU halten müssten, das andere das ebenso heikle Problem, dass sie plötzlich eine Grenze zwischen ihrer Provinz und dem Festland hochziehen müssten. Das eine ist für Hard-Brexit-Befürworter inakzeptabel, das andere für die protestantische Bevölkerung Nordirlands und einige ihrer Politiker, die derzeit die Minderheitsregierung von Theresa May im Parlament stützen.
Offene Grenzen, das wird an diesem Beispiel deutlich, haben eine wichtigere politische Bedeutung, als vielen bewusst ist. Sie sorgen nicht nur für freie wirtschaftliche Kooperation, sondern auch für den Abbau von Spannungen zwischen Gesellschaftsgruppen und Nationen. Das Beispiel Nordirland sollte jenen zu denken geben, die derzeit innerhalb der Europäischen Union für die Wiedereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen eintreten. Die Abschottung, die sie damit befördern, ist der Keim neuer Konflikte.
In Nordirland sind seit dem Friedensabkommen viele Mauern gefallen. Es gibt von der EU finanzierte gemeinsame Schulen von Katholiken und Protestanten – die übrigens nach dem Austritt Großbritanniens weiter unterstützt werden sollen. Erst die gegenseitige Öffnung, zu der sich beide Seiten durchgerungen hatten, konnte die Spannungen beseitigen.
Diese Offenheit ist – das sollte die britische Seite in diesen Verhandlungen berücksichtigen – mehr wert als die völlige Abschottung von jener durchaus kritisierenswerten EU, die London seit 1973 mitgestaltet hat.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2018)