Merkels halber Rücktritt reicht nicht

Die deutsche Bundeskanzlerin glaubt wohl selbst nicht, dass sie sich nach Aufgabe des CDU-Vorsitzes noch drei Jahre im Amt halten kann. Deutschland braucht dringend einen Neustart.

Deutschland steht vor einer tiefen Umwälzung. Der Rücktritt als Vorsitzende der CDU, den Angela Merkel am Tag nach den hessischen Landtagswahlen ankündigte, war nur der Anfang. Auch ihre Tage als Kanzlerin sind gezählt. Da kann sie noch so frohgemut behaupten, bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 im Amt bleiben zu wollen. Dieser fromme Wunsch wird sich kaum erfüllen.

Und das weiß Merkel wohl selbst am besten. Sie hat die Ämtertrennung, die sie nun als „Wagnis“ bezeichnete, bisher aus guten Gründen abgelehnt. Wenn die Macht einmal halbiert ist, dauert es nicht lang, bis sie ganz weg ist. Das konnte Merkel schon 2004/2005 erste Reihe fußfrei auf der Oppositionsbank studieren, nachdem Kanzler Gerhard Schröder den SP-Vorsitz an Franz Müntefering abgetreten hatte.

Anders als ihr Vorgänger war sie jedoch nicht in der Lage, ihre Nachfolge in der Partei zu regeln. Ihre Wunschkandidatin wäre wohl Annegret Kramp-Karrenbauer. Steigt die Generalsekretärin zur Parteichefin auf, könnte Merkel mit ihr im Tandem noch am ehesten ein Weilchen weiterregieren. Doch es ist alles andere als ausgemacht, dass sich die saarländische Ex-Ministerpräsidentin beim Parteitag am 7. Dezember durchsetzt.

Held der Stunde. Eine Fortsetzung des Merkelianismus mit spröderen Mitteln ist möglicherweise nicht das, wonach sich die ideologisch ausgehungerten Christdemokraten nach den jüngsten Wahlschlappen sehnen. Ihr Held der Stunde ist Friedrich Merz, ein alter Gegenspieler Merkels, der nach neunjährigem Intermezzo in der Finanzwirtschaft überraschend auf die politische Bühne zurückgekehrt ist. In Umfragen hat das 62-jährige Comeback-Kid die Nase vorn. Doch zählen werden am Ende die Stimmen der 1001 Parteitagsdelegierten – und die Empfehlungen der Landesverbände.

Merz fischt dabei im selben Teich wie der dritte Aspirant auf den Parteivorsitz, der 38-jährige Gesundheitsminister, Jens Spahn. Beide kommen aus Nordrhein-Westfalen, beide sprechen den konservativen Flügel an. Spahn, der gern ein Sebastian Kurz wäre, aber keiner ist, fliegen momentan deutlich weniger Sympathien zu als Merz. Spätestens in der Stichwahl sollte er mit dem Altmeister an einem Strang ziehen. Merz und Spahn wären fähig, Wähler von der AfD zurückzuholen. Doch zu behaupten, dass Deutschland unter ihrer Führung nach rechts abdriften könnte, ist Humbug: Beide sind überzeugte Pro-Europäer. Eines jedoch ist klar: Mit Merz oder Spahn am Parteiruder reduziert sich die Restlaufzeit Merkels und der Großen Koalition schlagartig. Und dann gibt es entweder einen fliegenden Wechsel zu einer schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition oder, besser noch: Wahlen.

Deutschland braucht einen Neustart. Und das ist nur mit frischem Personal möglich: ohne Merkel, ohne CSU-Chef Horst Seehofer, den Ministerpräsident Markus Söder nach erfolgter Regierungsbildung in Bayern schnell ablösen wird, und wohl bald auch ohne die glücklose SPD-Vorsitzende Andrea Nahles. Halbe Rücktritte sind zu wenig, damit Europas Schlüsselland seinen monatelangen Stillstand überwindet.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2018)

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