Der Brexit: Ein britisches Elitenversagen in ganzer Breite

Eine abgehobene politische Klasse behandelt Schicksalsfragen ihrer Nation als Spielchen unter Schulbuben. Gegen negative Folgen hat sie sich abgesichert.

Dieser Tweet vom 4. Mai 2015, drei Tage vor der Parlamentswahl, wird David Cameron wohl bis ans Ende seiner Tage verfolgen: „Britannien steht vor einer einfachen und unvermeidlichen Wahl: Stabilität und eine starke Regierung mit mir oder Chaos mit Ed Miliband.“ Ob das Vereinigte Königreich ein glücklicherer Ort geworden wäre, wäre der damalige Labour-Führer Miliband anstelle Camerons Premierminister geworden, wird die Welt nie erfahren. Stabilität hingegen haben die Briten seit damals nicht mehr genossen, von einer starken Regierung ganz zu schweigen. Seit Cameron den fatalen Fehler begangen hat, eine Volksabstimmung über Verbleib in oder Austritt aus der EU seines Landes zu lancieren, macht sich die einstige Weltmacht, die bisher zu Recht so stolz auf ihre jahrhundertealte parlamentarische Tradition und die Erfindung der Grundrechte vor fast einem Jahrtausend war, zum Gespött der Welt.
Man führe sich nur die am Donnerstagvormittag im Halbstundentakt vollzogenen Rücktritte von Mitgliedern des Ministerkabinetts von Camerons Nachfolgerin, Theresa May, vor Augen. Keinen halben Tag zuvor hatten all diese Politiker noch den Entwurf für ein Abkommen über den EU-Austritt angenommen. Nun haben sie ihre Ämter zurückgelegt, weil sie diesen Text nicht unterstützen zu können behaupten. Besonders grotesk war das Gebaren von Chef-Brexit-Verhandler Dominic Raab. Er könne „nicht mit gutem Gewissen die Bedingungen unterstützen, die für unser Abkommen mit der EU vorgeschlagen werden“. Darf man Herrn Raab fragen, ob er bei diesen Verhandlungen mit den Vertretern der Union nicht nur körperlich, sondern auch geistig anwesend war? Oder nahm er seine Rolle bloß in der zynischen Berechnung ein, um damit den Sturz der Premierministerin von innen beschleunigen zu können?
Diese Variante spricht ebenso wenig wie jene für das Berufsethos dieses an beiden englischen Vorzeigehochschulen, nämlich Cambridge und Oxford, ausgebildeten Politikers. Doch ethische Fragen scheinen den führenden Figuren der Brexit-Kampagne ohnehin gleichgültig zu sein. Sie gebärden sich wie verzogene Schulbuben, für die das Schicksal der Nation und ihrer Mitbürger bloß ein Jux, ein intellektuelles Spielchen in einem snobistischen Debattierklub ist. Man führe sich beispielhaft vor Augen, wie etwa der erzreaktionäre Jacob Rees-Mogg im Vorjahr beim Parteitag den angeblichen Segen des Brexit mit den mittelalterlichen Schlachten bei Crécy und Agincourt gleichsetzte. Aus demselben Wolkenkuckucksheim stammen die evidenzbefreiten Behauptungen führender Brexiteers, das Vereinigte Königreich werde künftig, von den angeblichen Fesseln der EU-Mitgliedschaft befreit, fantastische Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt abschließen können.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Entweder es gibt Ende März nächsten Jahres einen EU-Austritt ohne Nachfolgeregelung. Das wäre ein schwarzes Loch, denn alle Vereinbarungen, welche man in mehr als vier Jahrzehnten Mitgliedschaft im europäischen Verein mitbeschlossen hat (und die Statistik zeigt, dass London so gut wie nie überstimmt wurde), würden Schlag Mitternacht ungültig. Oder aber, das nun ausverhandelte Abkommen kommt doch noch irgendwie durch das britische Parlament. Dann aber wird die EU so lang ein faktisches Veto gegen britische Freihandelsabkommen haben, bis eine dauerhafte Lösung zur Vermeidung einer harten Grenze auf der irischen Insel gefunden ist.
So oder so: Den elitären Brexit-Fanatikern werden die realen Auswirkungen auf Wohlstand und Lebensplanung von Millionen ihrer Mitbürger egal sein. Sie haben sich schon abgesichert: Rees-Mogg hat vor einigen Monaten still und leise einen zweiten Investmentfonds in Irland gegründet, um weiterhin im Binnenmarkt spekulieren zu können. Boris Johnson wiederum hat bekanntlich für den Tag nach dem Brexit-Referendum vorsorglich zwei Zeitungskommentare verfasst: einen für die EU und einen dagegen. Alles nur ein Spiel, wie gesagt: Hauptsache, man hat seine Schäfchen rechtzeitig im Trockenen.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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