Im Weinberg des Herrn gab es keine 40-Stunden-Woche

Für das Urteil zum Karfreitag gibt es gute Gründe. Doch müssen EU-Bürger anno 2019 durch religiöse Vorschriften vor Ausbeutung geschützt werden?

Bis Ostern ist es noch ein Weilchen, doch die Passion Christi ist bereits jetzt, Ende Jänner, in aller Munde. Während man sich in London, Brüssel und Dublin die Köpfe darüber zerbricht, wie sich das Karfreitagsabkommen von 1998, durch das der Nordirland-Konflikt beigelegt wurde, im Zuge des Brexit retten lässt, ist es im Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zuletzt um die Frage gegangen, inwieweit der Karfreitag als Feiertag für alle zu gelten hat. Die europäischen Höchstrichter kamen am gestrigen Dienstag zu dem Schluss: Er hat. Es ist demnach nicht in Ordnung, die arbeits- und sozialrechtlichen Vorzüge eines protestantischen Feiertags nur den Protestanten am Arbeitsplatz zukommen zu lassen. Wenn an diesem Tag besondere Regeln zu gelten haben, dann für alle.

Bevor wir uns daranmachen, eine gesellschaftspolitische Tiefenbohrung vorzunehmen, muss zunächst einmal der Rahmen abgesteckt werden. Die Luxemburger Höchstrichter betrachteten die Causa Karfreitag aus dem Blickwinkel der Gleichbehandlung. Und aus dieser Perspektive ist das gestrige Urteil geradezu zwingend: Es kann nicht sein, dass in einer säkularen Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft über die Privilegien am Arbeitsplatz (mit-)entscheidet. Wenn protestantische Arbeitnehmer an katholischen Feiertagen in den Genuss der Feiertagsregelungen kommen, muss das auch umgekehrt gelten – alles andere wäre eine Diskriminierung. So weit, so gerecht.

Nun könnte man sich in subjektive Glaubensfragen vertiefen, über die sich trefflich streiten lässt. Treten wir stattdessen einen Schritt zurück und betrachten das größere Ganze. Dem EuGH ging es um das Individuum. Man könnte aber das gestrige Urteil auch zum Anlass nehmen, sich über das generelle Verhältnis zwischen dem Sacrum und Profanum Gedanken zu machen. Die Rechtssache Karfreitag, die in Österreich ihren Ursprung genommen hat, legt nahe, dass hier im Lauf der Zeit eine Unwucht entstanden ist.

Religiöse Feiertage als Tage der Ruhe hatten in früheren Zeiten auch die Funktion, Menschen eine Auszeit vom Joch der schweren körperlichen Arbeit zu verschaffen. Die einfachen Arbeiter im Weinberg des Herrn kannten weder die 40-Stunden-Woche noch den bezahlten Sommerurlaub. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass beispielsweise in Japan, wo die Urlaubsansprüche heutzutage immer noch knapp bemessen sind, die Zahl der gesetzlichen Feiertage (und ihre gesellschaftliche Bedeutung) besonders hoch ist.

Auf die sozialen Marktwirtschaften Europas trifft diese Beschreibung längst nicht mehr zu. EU-Bürger müssen anno 2019 nicht durch religiöse Vorschriften vor der Ausbeutung durch Lehnsherren geschützt werden. Und umgekehrt kann man von Arbeitgebern nicht verlangen, dass sie künftig neben Betriebswirtschaft auch Theologie studieren, um ihre Fließbänder im Rhythmus der Psalmen zu takten.

Wer nach der Abschaffung aller Feiertage ruft, macht es sich allerdings viel zu leicht. Weihnachten und Ostern, aber auch der 1. Mai und der Nationalfeiertag erfüllen eine wichtige gemeinschaftsstiftende Funktion. Um diese Funktion mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung in Einklang bringen zu können, bedarf es eines Begriffs, der im Zeitalter des grassierenden Chauvinismus und der wachsenden Intoleranz mit Bedacht verwendet werden sollte: Leitkultur.

Dass hierzulande der Ostermontag eine andere Prominenz als der Karfreitag hat, Heiligabend wichtiger als Halloween ist und der Tag der Arbeit mehr Assoziationen als Thanksgiving weckt, muss an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Genau dieser ungeschriebene, natürlich gewachsene gesellschaftliche Kanon sollte bei den Feiertagen den Takt vorgeben – auch auf die Gefahr hin, dass das eine oder andere aus der liturgischen Perspektive bedeutsame Datum nicht mehr mit einem arbeitsfreien Tag gewürdigt wird.

Sonst laufen wir Gefahr, im Reigen der Feiertage den eigentlichen Sinn und Zweck von gemeinsamen Auszeiten aus den Augen zu verlieren.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2019)

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