Mitleid mit dem Ex-Innenminister? Nicht nur Neurologen verneinen die Existenz gerechter Strafen – Strafrechtler tun es genauso.
Die gerechte Strafe hat ihn ereilt, sagte man früher, wenn ein Bösewicht vom Teufel geholt oder geköpft wurde. Auch dieser Tage spielt die Vorstellung von der „gerechten Strafe“ wieder eine Rolle, wenn es um das Urteil gegen den früheren Innenminister und Europa-Abgeordneten Ernst Strasser geht.
Was ist gerecht? Im Alltag glauben wir es oft zu wissen: zum Beispiel wenn wir bei der Keksverteilung jedem Kind gleich viel geben. Aber schon dieser simpel wirkende Fall hat Tücken. Nicht alle Kinder sind gleich groß, gleich hungrig, gleich bedürftig nach Süßem, müsste man nicht dies alles berücksichtigen? Und wenn ja, wer könnte es ermessen?
Frühere Kulturen hatten es leichter, wenn sie aus der Gerechtigkeit eine Eigenschaft Gottes oder überhaupt eine Gottheit machten, die bei Entscheidungen half. Wer bestimmt heute, welche Strafe gerecht ist? (Im Fall Strasser offenbar u.a. das Ziel der Korruptionsbekämpfung.) Ist der „Promi-Malus“ gerecht, den manche für die Höhe der Strafe mitverantwortlich machen? Müsste man dann nicht auch die bei bekannten Menschen viel stärkere öffentliche Demütigung berücksichtigen? Zu vielen Zeiten war schon das Prangerstehen Strafe genug.
Neurologen sagen heute, dass wir keinen freien Willen haben, also auch nicht „schuld“ sein können. Man muss aber nicht die Hirnwissenschaft bemühen, um die Gerechtigkeit von Strafen generell zu verneinen. Strafen hätten einen Zweck, aber keinen Sinn, schrieb schon in den Siebzigerjahren der bekannte deutsche Strafrechtler Eberhard Schmidhäuser in „Vom Sinn der Strafe“. Weder bewirkten sie Gerechtigkeit noch „Sühne“, also die Versöhnung des Delinquenten mit sich und der Gesellschaft, noch die Besserung des Straftäters.
Übrig blieb für ihn nur die Abschreckungstheorie, die auch in der Urteilsbegründung des Strasser-Richters eine besondere Rolle spielte. Aber gerade sie kollidiert besonders mit unserem Gerechtigkeitsempfinden. Ein Straftäter sitzt also einen Teil seiner Zeit im Gefängnis nicht wegen seiner individuellen Schuld ab, sondern weil er das Pech hatte, dass ein Rechtssystem gerade ein „Exempel statuieren“ möchte. Er erweist der Gesellschaft damit sogar einen Dienst, auch wenn er dieses Opfer nicht freiwillig bringt. Auf jeden Fall wird er als „Mittel zum Zweck“ missbraucht.
Ein glaubhaftes Rechtssystem müsse diese Instrumentalisierung und Ungerechtigkeit zugeben, meinte der 2002 verstorbene Schmidhäuser, quasi nach dem Motto: „Du hast Pech gehabt; gewiss, aber dich hat es nun einmal erwischt.“ Ist es Zufall, dass das Wort „gerecht“ in den Kommentaren der Juristen zum Strasser-Urteil so gut wie nicht vorkam? „Er hat seine gerechte Strafe erhalten“ ist überhaupt aus der Mode gekommen. Ein anderer alter Spruch aber passt immer noch, zumal wenn er eher seufzend als triumphal vorgetragen wird: Strafe muss sein.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2013)